Irrliebe
natürlich nicht allein, Herr Knobel. Wir arbeiten alle zusammen: Das Kommissariat, die Institute und die Staatsanwaltschaft. Wir sind uns sicher, dass ein Suizid Franziskas ausscheidet. Es gibt in diesem Fall noch eine andere Ebene, da sind wir uns alle sicher. Ich möchte nichts versäumen. Denken Sie daran, dass wir immer noch nach Pierre Brossard suchen, der vom Erdboden verschwunden zu sein scheint. Wir haben keine Anhaltspunkte, wo er sein könnte. Es gibt keine Hinweise aus der Bevölkerung. Nichts. Das ist das Merkwürdige: Auf der einen Seite scheint es ihn an der Seite von Franziska gegeben zu haben, auf der anderen Seite scheint er jedoch nicht der tatsächliche Pierre Brossard gewesen zu sein. Moselgold ist dafür der erste Beweis. Mein Trumpf! Und der Umstand, dass ihn kein Zeitungsleser trotz des recht guten Fotos wiedererkannt hat, ist ein weiteres Indiz. Vielleicht ist er der Typ auf dem Bahnsteig gewesen, aber ich persönlich glaube, dass es nur jemand war, der Pierre Brossard gewesen zu sein scheint. Wer weiß? Jedenfalls werden wir die Strategie ändern: Wir fahnden jetzt in der Öffentlichkeit nicht mehr nach Pierre Brossard, sondern nach dem Mann an der Seite von Franziska Bellgardt. Über Franziska müssen die Zeugen gefunden werden, die uns etwas über die Identität dieses Mannes sagen können.«
Weit hinten funkelte schwach zitternd ein weißes Licht, das bald ein sich schnell näherndes Dreieck bildete. Die Schienen begannen zu singen, Sekunden später dröhnte der Zug vorbei und zerstob den schwachen Regen im Lampenschein in milchige Fahnen. Die Druckwelle zwängte die Luft zur Seite. Sie traf Stephan wie eine dichte feuchte Masse.
Sie blickten dem Zug nach.
»Haben Sie gerade daran gedacht?«, fragte Ylberi, als sich die roten Lichter des Zuges in der Dunkelheit verflüchtigt hatten.
»Sie etwa nicht?«, fragte Stephan zurück. »Was wollen Sie wirklich von mir, Herr Ylberi?«
»Ich suche jemanden, der die richtigen Fragen stellt. Mehr nicht, glauben Sie mir!«, versicherte Ylberi. »Sie gelten in Justizkreisen als Analytiker. Das ist ein Fall für den Kopf, nicht für die Kriminaltechniker. Es ist ein Fall ohne greifbare Spuren. Sehr ungewöhnlich.«
»Ich werde nicht preisgeben, was mir Frau Rühl-Brossard anvertraut hat«, stellte Stephan klar.
»Das sollen Sie auch nicht, Herr Knobel«, besänftigte Ylberi. Er schmunzelte. »Aber es gibt ja auch nichts preiszugeben. Denn sie wird Ihnen nichts erzählt haben.«
17
Am nächsten Morgen, es war Donnerstag, der 5. November, veröffentlichten die örtlichen Tageszeitungen Franziskas Foto. Die begleitenden Artikel beschrieben nüchtern, dass Franziska Bellgardt die in den bisherigen Berichten namentlich anonym gebliebene Frau war, die am Freitag, 23. Oktober im Bahnhof Dortmund-Kurl vom Zug überfahren worden war. Erstmals legte sich die ermittelnde Staatsanwaltschaft auch darauf fest, dass es sich um ein Verbrechen gehandelt habe, und bat um Hinweise, wer Franziska ab Anfang August, wann, wo und mit wem in Begleitung gesehen habe und lobte für sachdienliche Informationen einen stattlichen Betrag aus. Die von der Staatsanwaltschaft redaktionell vorbereiteten Beiträge wiesen darauf hin, dass die gesuchte Begleitperson als Täter in Betracht komme, aber nicht zwingend der Täter gewesen sein müsse.
Bis zum Wochenende ging eine Vielzahl von Hinweisen ein, deren Überprüfung jedoch im Sande verlief. Teilweise war die vermeintlich erkannte Person nicht Franziska, teilweise verloren sich die Hinweise in dem diffusen Bewusstsein, sie oder eine ihr ähnlich sehende Frau in den letzten Wochen irgendwo gesehen zu haben. Ylberi wusste, wie sehr die Erinnerung täuschen konnte, dankte freundlich für die Hilfe und sammelte die über die Aussagen gefertigten Protokolle, ohne sie zunächst weiter zu beachten. Die einzige wertvolle Aussage stammte von drei 15-jährigen Schülerinnen, die am Donnerstag, 27. August, das Freibad Stockheide besucht und Kopfsprünge vom Dreimeterbrett geübt hatten.
Ylberi las aufmerksam den vom Kommissariat gefertigten Bericht:
Eines der Mädchen, die Zeugin Jessica Schneider, hatte eine Digitalkamera bei sich, und so fotografierten sich die Mädchen wechselseitig, wie sie vom Brett ins Wasser sprangen. Dies hatte eine Frau beobachtet, die mit ihrem Freund auf einer Wolldecke in der Nähe der Mädchen auf dem das Becken umgebenden Rasen lag und sich anbot, mit der Kamera alle drei Mädchen zu
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