Irrliebe
Dominique als auch Pierre in Betracht kamen, konnte der Brief nur von einer Person in Bochum eingeworfen worden sein, die mit Dominique oder Pierre im weiteren Verlauf des 15. Oktober Kontakt gehabt hatte. Wenn es M gab, musste er eine der Personen sein, die sich am 15. Oktober in Dominiques Büro mit den Gästen der französischen Eisenbahn getroffen hatte. Stephan fühlte sich der Lösung nah und fand sie nicht. Um Viertel nach eins holte er Marie von der Schule ab.
Sie verließ das Schulgebäude mit gefüllten Stoffbeuteln an beiden Händen. Stephan erinnerte sich, dass er sich früher über seine Lehrerin lustig gemacht hatte, die Klassenarbeitshefte in zum Bersten vollen Tragetaschen mit nach Hause nahm.
Marie warf die Beutel auf die Rückbank seines Autos.
»Es gibt nichts zu grinsen«, kommentierte sie Stephans Schmunzeln.
Zwei Schüler aus der Unterstufe rannten am Auto vorbei und pfiffen ihr zu. Marie war in der Schule angekommen. Sie verließen das Schulgelände und fuhren zu Stephans Kanzlei. Er erzählte ihr, was er am Vormittag erfahren und sein Denken in eine neue Richtung gelenkt hatte. Stephan erklärte, noch die Akten beim Grundbuchamt einsehen zu wollen. Ihm war eine Idee gekommen.
Marie nahm währenddessen in Stephans Mansardenbüro Platz, genervt, dass Stephan sich in eine Sache hineinzusteigern schien, die längst nicht mehr seine war und ihn davon abhielt, sich um umsatzträchtige Mandate zu kümmern, deren Ertrag es ihm und Marie erlauben würden, die wenig geliebte Wohnung in Asseln aufzugeben. Sie würden ein Zuhause finden müssen, das ihren wirklichen Vorstellungen entsprach, die sich erst in der letzten Zeit herausgebildet hatten und nicht zufällig von Stil und Ausstattung des Hauses inspiriert wurden, in dem Dominique gewohnt und gelebt hatte.
Marie blieb mit ihren Schulheften in seinem Büro zurück, und Stephan blickte im Amtsgericht in die Grundbücher jener Häuser, die Dominique gehörten. Danach stand fest, dass Dominique die beiden Mietshäuser, aus denen sie gute Erträge erwirtschaftete, schon vor der Ehe mit Pierre Brossard besaß und das dritte, teils privat und teils als Architekturstudio genutzte prunkvolle Objekt, wie von Ylberi ermittelt, erst während der Ehe mit Pierre erworben hatte. Das Grundbuch wies erstaunlicherweise keine Belastungen dieser Immobilie auf, und die zugehörige Grundakte, in die Stephan unter Vorlage der zu Beginn des Mandats von Dominique unterschriebenen Vollmacht einsehen konnte, verriet, dass sie das Haus seinerzeit zu einem Preis von über drei Millionen Euro erworben hatte. Stephan studierte den notariellen Kaufvertrag und erkundigte sich bei dem Notar, der den Vertrag damals beurkundet hatte. Ihm entlockte er die Information, dass Dominique von ihrer Mutter reich geerbt, ihr Erbe versilbert hatte und so in der Lage gewesen war, das luxuriöse Haus im Kreuzviertel ohne Aufnahme von Schulden zu erwerben. Das war die Information, die in der Tat alle bisherigen Überlegungen auf den Kopf stellen konnte, und Stephan wunderte sich, dass Ylberi diese Umstände entweder nicht ermittelt oder ihre Bedeutung möglicherweise nicht erkannt hatte.
Als Stephan etwa eineinhalb Stunden später zurückkehrte, saß Marie nicht, wie er erwartet hatte, an seinem Schreibtisch, um Klassenarbeiten zu korrigieren. Sie stand vielmehr vor dem Kanzleigebäude und winkte Stephan herbei, als er um die Ecke kam und über den Parkplatz auf den säulengefassten Eingang zulief.
»Hier ist gerade Unglaubliches passiert«, begann sie aufgeregt, »warum bist du nicht ans Handy gegangen?«
Stephan griff in seine Jackentasche, aber ihm fiel ein, dass er das Gerät stummgeschaltet hatte, als er das Gerichtsgebäude betreten hatte, um das Grundbuchamt aufzusuchen.
»Gerade als du weg warst, wollte ich mit den Korrekturen anfangen, aber ich fand in deinem Büro keinen rot schreibenden Füller. Also bin ich nach unten gegangen, um im Sekretariat nachzufragen, ob sie dort einen haben. Als ich unten ankam, sah ich eine junge Frau an der Theke stehen, die nach dir oder Löffke verlangte. Ich kenne sie. Sie arbeitet in Dominiques Büro.«
»Woher weißt du das?«, wunderte sich Stephan. »Oder kennst du einen ihrer Angestellten?«
»Es war die Frau, die einmal kurz dazu stieß, als ich mich mit Dominique in ihrer Wohnung unterhalten hatte. Ich hatte das mal erwähnt, als ich davon erzählte, dass sich dort im Hause alle duzen.«
Stephan erinnerte sich.
»Also war es Frau
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