Irrliebe
Anleihen an alte Eisenbahnbrücken nehmen.«
»Sie sind mit zwei Autos gefahren«, vermutete Stephan.
Jungmann bejahte.
»Sind Sie über Bochum gefahren?«, fragte Stephan.
»Wieso Bochum?«, fragte Antje Swoboda.
»Es ist wichtig«, blieb Stephan unbestimmt.
»Wir sind auf der Autobahn an Bochum vorbeigefahren«, sagte Jungmann. »A 40, dann A 43, so, wie man eben von hier am schnellsten ins Bergische Land kommt. Aber es ist niemand zwischendurch ausgestiegen. Auch auf dem Rückweg nicht. Wenn ich mich recht erinnere, waren wir gegen 18 Uhr zurück. Die Herren von der SNCF wollten ohnehin erst am nächsten Tag zurückfahren und hatten hier im Hilton ein Zimmer gebucht. Also waren wir am Abend noch gemeinsam essen.«
»Wer ist wir?«, fragte Stephan.
»Na, Dominique, Pierre, Jens, Antje und ich«, erklärte Jungmann, als sei dies selbstverständlich. »Dominique wollte unbedingt den Auftrag, also war Anwesenheitspflicht. In solchen Dingen kannte sie kein Pardon. Sie brauchte uns als ihr Fußvolk. Antje und ich waren bis elf Uhr da. Dann wurden wir in Gnaden entlassen. Jens ist mit Dominique und Pierre noch bis zum Ende geblieben. Wie Jens sagte, tagte die Runde noch bis Mitternacht.«
»Und Pierre und Dominique hatten den ganzen Tag über, also ab Beginn der Besprechung mit den Franzosen, auch keinen Kontakt zu irgendwelchen anderen Leuten? – Dominique war nicht zwischendurch einmal weg?«, wollte Stephan wissen.
»Auf der Toilette war sie zwischendurch natürlich – und später ging sie zum Essen in ihre Wohnung. Sie war aber nicht länger als eine Stunde weg. Das Haus hat sie jedenfalls nicht verlassen, weil sie jederzeit für die Franzosen erreichbar sein wollte«, antwortete Jungmann.
»Da sind Sie sicher?«, vergewisserte sich Stephan.
»Ganz sicher!«, lächelte Jungmann. »Und Pierre war zwischendurch auch mal etwa eine Stunde weg, noch bevor wir nach Remscheid fuhren. Dominique und Pierre wechselten sich praktisch ab. Das war so zwischen 13 und 15 Uhr. In dieser Zeit hat jeder von ihnen unten etwas gegessen. Sie sind nicht zusammen fortgegangen, weil ja immer jemand da sein musste, um mit den Gästen Französisch zu sprechen. In dieser Zeit erklärten die Herren den gesamten Verlauf der projektierten Strecke. Das hatte mit der projektierten Brücke nicht viel zu tun. Es war eher langweilig.«
»Und die Tagespost des Büros oder die Privatpost?«, fragte Stephan. »Wer hat die weggebracht?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Jungmann. »Die bringt gewöhnlich der weg, der gerade an einem Briefkasten vorbeikommt. Ich war es jedenfalls nicht. – Weißt du es?« Er wandte sich Antje Swoboda zu.
Sie schüttelte den Kopf.
»Frau Rühl-Brossard war also definitiv an jenem Tag, jedenfalls nach elf Uhr morgens, an keinem Briefkasten im Stadtgebiet von Bochum. – Und Herr Brossard ebenfalls nicht«, insistierte Stephan.
»Nein!«, betonte Jungmann und lächelte gereizt. »Sie können das ausschließen. Ich weiß natürlich nicht, ob einer von den beiden vor dem Treffen mit den Franzosen aus irgendwelchen Gründen in Bochum war. Aber aus welchem Grund?« Er hob verständnislos die Arme. »Tut mir leid, mehr kann ich nicht sagen.«
»Wofür ist das denn so wichtig, Herr Knobel?«, fragte Frau Swoboda.
»Es dreht vielleicht alle bisherigen Überlegungen auf den Kopf«, erklärte Stephan. »Staatsanwalt Ylberi verfolgt bislang die Theorie, dass Dominique Rühl-Brossard hinter dem Tod von Franziska Bellgardt steckt. Aber diese Theorie könnte nun Makulatur sein. Ich sehe jetzt schon sein erstauntes Gesicht vor mir. Es geht schlicht um einen Brief an Franziska Bellgardt, der am 15. Oktober in Bochum eingeworfen worden ist. Dieser Brief spielt eine zentrale Rolle im gesamten Tatgeschehen. Der Umstand, dass er in Bochum eingeworfen wurde, widerlegt alle bisherigen Annahmen.«
Stephan erhob und verabschiedete sich. Er verließ nachdenklich das Studio. Wenn der junge Architekt die Wahrheit sagte, woran er nicht zweifelte, schied Dominique als Absenderin des Briefes aus, denn er konnte frühestens nach dessen Fertigstellung zu einem Bochumer Briefkasten gebracht worden sein, in den er aber spätestens zur Spätleerung um 23.30 Uhr eingeworfen sein musste, um am nächsten Tag der Redaktion von Kult-Mund zugehen zu können.
War der Brief um 14.14 Uhr auf dem Computer in der unter dem Studio gelegenen Wohnung geschrieben worden, als dessen Verfasser nach den zeitlichen Angaben von Alf Jungmann sowohl
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