Irrliebe
Haaren, und der ihm bis dahin unbekannten Antje Swoboda in das pompös ausgestattete Wartezimmer im Studiobereich, in dem Hochglanzbilder ihrer berühmtesten Projekte stummes Zeugnis über Dominiques Lebenswerk ablegten. Beide hatten sich erboten, Stephan bei der Beantwortung der angekündigten Fragen behilflich zu sein, als er darüber aufgeklärt hatte, der frühere Anwalt von Frau Rühl-Brossard gewesen zu sein. Es war unverkennbar, dass ihre Hilfsbereitschaft zu einem guten Teil aus jenem schlechten Gewissen gespeist wurde, das sie beschlich, weil sie mit einer Energie ihrer täglichen Arbeit nachgingen, die aufrichtige Trauer um Dominique nicht zulassen konnte.
Stephan stellte seine einzige Frage: Konnte im Studio nachvollzogen werden, was Dominique am Donnerstag, dem 15. Oktober, nach 14 Uhr gemacht hatte? Frau Swoboda erkundigte sich, wofür dies wichtig sei, und Stephan erklärte ihr, dass es um die Absendung eines bestimmten Briefes gehe, der für die Aufklärung des Falles von großer Bedeutung sei. Frau Swoboda fragte weiter nach, aber Stephan bat freundlich, nur diese Frage beantworten zu wollen.
Herr Jungmann verschwand für einige Minuten, dann kam er mit dem Terminkalender des vergangenen Monats zurück. Er setzte sich zu Stephan, legte den Kalender auf den Tisch, der ein stilisiertes Modell einer von Dominique entworfenen Flussbrücke darstellte. Jungmann stützte sein kantiges Gesicht in die Hände und ließ Stephan durch den Kalender blättern.
»Der 15. Oktober ist durchgehend rot markiert. Projekt TGV. Wir hatten das bereits dem Staatsanwalt gesagt«, erläuterte Jungmann, als Stephan die Kalenderseite studierte.
»Nur hat sich der Staatsanwalt dafür interessiert, wann der betreffende Brief geschrieben worden sein könnte«, erwiderte Stephan. »Ich hingegen interessiere mich dafür, wann er abgesandt wurde. Es geht um den Brief vom 15. Oktober an die Redaktion des Magazins Kult-Mund, letztlich bestimmt für eine Franziska Bellgardt, die sich hinter der Chiffrenummer 0829 verbarg. Erzählen Sie mir also alles, was Sie Ylberi geschildert haben. Was heißt Projekt TGV?«, erkundigte er sich.
»Dominique hatte am 15. Oktober zwei Vertreter der Planungsabteilung der Französischen Eisenbahn zu Gast«, erklärte Herr Jungmann. »Ich erinnere mich genau. Die SNCF – das ist die Bezeichnung der französischen Staatsbahn – plant im Rahmen einer Hochgeschwindigkeitstrasse eine Talbrücke, die architektonisch Elemente des dort vorherrschenden Baustils und der dortigen markanten Geländeformationen aufgreifen soll. Es ist ein Prestigeprojekt. Die Franzosen vergeben ihre Aufträge sonst kaum außerhalb ihres Landes.«
»Waren Sie bei dem Gespräch dabei?«, fragte Stephan.
»Neben Dominique, unserem Kollegen Jens Hoffmann, Antje und mir war auch noch Pierre Brossard anwesend, weil er als Franzose natürlich für Dolmetscherdienste prädestiniert war. Dominique sprach zwar gut Französisch, aber hier ging es ja auch um manche Fachbegriffe, die ihr vielleicht fremd waren.«
Stephan sah prüfend in den Kalender.
»Nach dem Eintrag begann die Besprechung um elf Uhr morgens. Stimmt das?«
Jungmann nickte. »Ungefähr, ja. Vielleicht war es zehn nach elf. Die Herren waren mit der Bahn angereist. Soweit ich mich erinnere, hatte der Zug ein paar Minuten Verspätung.«
Stephan überlegte. Nach den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft war der Brief am 15. Oktober um 14.14 Uhr geschrieben worden. Dominique konnte ihn also nicht abgesandt haben, bevor der Besuch aus Frankreich eingetroffen war.
»Wie lange ging der Termin?«, fragte er.
»Er ging über den ganzen Tag«, sagte Jungmann. »Wir sind nämlich am Nachmittag überraschend noch mit den Herren zur Müngstener Brücke bei Remscheid gefahren. Dominique war ganz plötzlich auf diese Idee gekommen. Sie wollte den Franzosen ein Brückenbauwerk zeigen, das mit einer mittleren Stützweite von rund 170 Metern und einer maximalen Höhe von 107 Metern in etwa dem in Frankreich zu bauenden Projekt vergleichbar ist. Es ging darum, eine Konstruktion zu wählen, die nicht zu sehr dominiert, sondern sich filigran in die Umgebung einfügt und deshalb nicht als Fremdkörper empfunden wird. Dafür ist die alte Müngstener Brücke auch heute noch ein Beispiel, auch wenn dieser frühe Stahlbau für die neue Brücke nicht in Betracht kommt. Es ging vielmehr um das äußere Bild. Dominique wollte eine Kombination aus Stahl und Beton – und ein paar bewusste optische
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