Irrliebe
Kanzlei um Hilfe gebeten worden und das Anliegen der Mandantschaft so wichtig sei, dass es nicht strengen Zeitvorgaben unterliegen könne. Der Arzt betrachtete Marie so wie die Schwester vor ihm. Marie hielt seinem Blick stand, umgriff fest ihre Akte und gab sich als resolute Vertreterin ihres Mandanten. Schließlich führte sie der Arzt zu Brossards Zimmer.
»Sie denken bitte daran, was ich eben sagte«, gab er ihr mit auf den Weg und schien damit besiegeln zu wollen, dass er Marie nun die Verantwortung für das Wohl des Patienten aufbürdete. Der Arzt klopfte an, öffnete die Tür und bedeutete Marie mit einer Geste einzutreten.
»Es wäre wichtig, dass wir nicht gestört werden«, sagte Marie. »Bitte seien Sie so freundlich und tragen dafür Sorge! Das Gespräch mit meinem Mandanten ist absolut vertraulich. Ich möchte weder eine Störung der Gesprächsatmosphäre, noch befürchten müssen, dass Unbefugte in das Zimmer kommen und auch nur Wortfetzen aufschnappen können.« Sie lächelte verbindlich. »Ich bin mir sicher, dass Sie dafür Verständnis haben.«
Der Arzt verzog unmerklich die Stirn. Maries gleichermaßen förmlich gestelzten wie selbstbewusst gewählten Worte verfehlten ihre Wirkung nicht.
»Sie machen Ihre und wir unsere Sache«, beschied er kühl und entfernte sich.
Marie trat in das in hellen Farben gehaltene, nüchtern eingerichtete Zimmer ein. Pierre Brossard war allein. Er lag im Bett, das Kopfteil war angewinkelt, sodass sein Oberkörper etwas aufgerichtet war. Seine rechte Hand umschloss den hölzernen Griff des über das Bett ragenden Galgens. Er zog sich etwas hoch und musterte Marie misstrauisch aus seinem eingefallenen Gesicht. In einem Glas auf dem Nachttisch neben seinem Bett perlte langsam Kohlensäure nach oben. Daneben stand ein bunter Blumenstrauß in einer schlichten violetten Vase.
Marie trat vor und blieb vor dem Bett stehen. Sie reichte Pierre Brossard die Hand.
»Mein Name ist Schwarz. Ich komme direkt aus der Kanzlei«, stellte sie sich mit ihren einstudierten Worten vor.
Pierre Brossard betrachtete Marie eine Weile, dann bat er sie, sich zu setzen. Marie zog einen Stuhl heran und nahm Platz. Sie blickte sich um und vergewisserte sich, dass die Zimmertür verschlossen war.
»Unser Gespräch ist absolut vertraulich«, fuhr sie fort. »Können Sie sicher sein, dass uns hier niemand hört? – Kein Telefon, das eine aktivierte Verbindung nach außen hat?«
Pierre Brossard verneinte mit einer misslaunigen Kopfbewegung.
»Sind Sie sicher, dass kein Abhörgerät installiert wurde?«, fragte Marie weiter. »Ich nehme an, dass die Polizei, zumindest aber Staatsanwalt Ylberi, Sie bereits einmal besucht hat.«
Pierre Brossard bejahte mit leichtem Kopfnicken.
»Also kein Abhörgerät?«, hakte sie nach, stand auf und ertastete den kleinen Bettschrank. »Darf ich in die Schubladen sehen?«, fragte sie und wartete Brossards Antwort erst gar nicht ab.
»Nichts!«, stellte sie fest, wandte sich um und untersuchte in gleicher Weise den Patientenschrank und die darin befindlichen wenigen Kleidungsstücke. »Die sehen alle frisch aus«, befand Marie. »Hat man Ihnen vom Krankenhaus aus neue Sachen gegeben? – Sie müssen mir sagen, wenn ich Ihnen Dinge bringen soll – oder macht das Antje für Sie?«
Marie drehte sich zu Pierre um.
»Sie sorgt für mich«, antwortete er mit leisem Stolz. »Sie hat auch die Blumen besorgt. Nach außen gelten die Blumen als Strauß aller Mitarbeiter aus Dominiques Büro.« Er lächelte flüchtig, und Marie atmete erleichtert aus, ohne dass Pierre Brossard dies bemerkte. Sie trat ans Fenster und sah eine Weile scheinbar gedankenverloren hinaus. Sie fühlte Pierres Blicke auf sich geheftet. Marie musste die Führung behalten, durfte sich nicht von Pierre einwickeln und aushorchen lassen und zugleich ihm gegenüber eine Überlegenheit suggerieren, die sie auch dann bewahren musste, wenn sie unsicher wurde.
»Sie wissen, dass Ylberi Ihnen beiden auf der Spur ist«, sagte sie schließlich, ohne sich umzudrehen. »Er hat die gesamte Geschichte durchdrungen, jedes Detail ausgewertet. Er ist in ständigem Kontakt mit unserer Kanzlei, die Ihre Frau vertreten hat. Ylberi tauscht sich mit uns aus. Wir wissen, was er weiß.« Und sie reihte zum Beweis die wesentlichen Stichworte auf: Die inszenierte Beziehung mit Franziska, die vermeintliche Täterschaft Dominiques, die gekonnt gelegten Fährten, die in die falsche Richtung führten. Sie erwähnte die
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