Irrliebe
Kopfverletzung im Moselgold, das Foto vom Sprung ins Schwimmbad, die Coladose, die auf die Schienen gestoßen wurde, das schwarze Zimmer in Paris, den Abschiedsbrief an Dominique und den ersten und den zweiten Brief an Franziska, wobei ersterer am falschen Ort eingeworfen worden war und die Inszenierung auffliegen ließ. Marie betete die Stichworte wie ein geläufig gewordenes Repertoire herunter, dessen Bausteine Grundlage ihrer eigenen differenzierten Analyse geworden waren.
»Ylberi fehlt, wenn man so will, nur noch die letzte gedankliche Wendung«, schloss sie. »Aber der Staatsanwalt ist intelligent, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis er alles verstanden hat.«
Pierre Brossard atmete flach hinter ihrem Rücken. Er war noch sichtbar geschwächt, aber zweifellos zäh und voller Willenskraft. Welche Disziplin hatte er angewandt? Und welch alberner Fehler brachte das Konstrukt zum Einsturz, das er mit Antje so sorgfältig ausgetüftelt hatte. – Wenn Stephan recht hatte …
»Sie müssen das verhindern«, antwortete er schließlich. »Deshalb wende ich mich ja an die Kanzlei.« Sein angenehmer französischer Akzent ließ seine Aussprache so sympathisch und vertraut klingen, aber dahinter verbarg sich sein eiserner Wille, zu retten, was noch zu retten war.
»Ich muss alles im Detail wissen«, gab Marie die Richtung vor. »Noch viel genauer, als das, was Antje schon in der Kanzlei gesagt hat. Nur dann – vielleicht – kann ich Ihnen helfen. Wir wissen, dass Sie einen raffinierten Plan umgesetzt haben.«
»Was werden Sie tun?«, fragte Pierre.
»Ich kann einen Staatsanwalt Ylberi nicht verhindern«, meinte Marie, »aber vielleicht gibt es Möglichkeiten, seine Schlussfolgerungen in eine andere Richtung zu lenken.« Jetzt wandte sich Marie um und sah Pierre wieder fest ins Gesicht.
»Warum sollte ich Ihnen trauen?«, fragte Pierre.
»Sie haben gar keine andere Wahl mehr«, erwiderte Marie kalt. »Kollege Knobel ist Ihnen auf die Spur gekommen. – Seien Sie froh, dass er es war – und nicht Staatsanwalt Ylberi. So ist es doch nur eine Frage des Geldes. Unsere Arbeit wird Sie einiges kosten.«
Sie lächelte überlegen und setzte sich zu Pierre ans Bett.
»Es ist für Sie nicht gut gelaufen, Herr Brossard. Ein kleiner Fehler, der alles zunichte machen kann. Wie oft haben Sie in den letzten Stunden darüber nachgedacht? Wie oft haben Sie sich gewünscht, noch einmal in das Geschehen eingreifen zu können, in die Vergangenheit zu reisen, um die entscheidende Weiche anders zu stellen? In solchen Situationen möchte man das Rad der Zeit zurückdrehen. Ich kann das gut verstehen.«
Pierre spitzte die Lippen und schwieg.
»Sie denken unablässig daran, Herr Brossard. Wer an Ihrer Stelle täte es nicht? Aber Sie müssen sich mit der Sache auseinandersetzen. Sie fangen am besten ganz vorn an, nämlich zu dem Zeitpunkt, als Sie und Antje Swoboda sich näher kamen. Es war leicht, sich kennenzulernen. Schließlich begegneten Sie einander häufig in Dominiques Haus.«
Marie öffnete ihre Akte und strich ein leeres Papier glatt.
»Sie schreiben nichts auf!«, bestimmte Pierre und hustete heiser.
Marie nickte.
»Also gut. Ich kann Sie verstehen.« Sie klappte die Akte wieder zu.
»Haben Sie etwas bei sich? Ein verstecktes Diktiergerät – oder so?«, fragte er.
»Nein, bestimmt nicht!«, versicherte Marie. »Ich bin nicht so dumm und dokumentiere meine Mitwisserschaft – oder meine Ratschläge, wie wir Ylberi in eine andere Richtung lenken können. Was ich tun werde, ist in der Konsequenz Strafvereitelung. Das geht über das hinaus, was Anwälte dürfen. Ich hoffe, Sie wissen das.«
Pierre nickte dankbar. »Es soll nicht Ihr Schaden sein«, sagte er, seinen Wertmaßstäben folgend.
»Antje ist ein besonderer Typ«, begann er. »Sie fällt nicht auf den ersten Blick auf. Sie ist etwas zurückhaltend. Was soll ich sagen? Ich denke, sie ist sogar scheu. Wenn man viele Menschen auf einmal sieht, fällt einem eine Antje in der Menge nicht auf. Man sieht eine Dominique, aber keine Antje. Vielleicht ist sie auch etwas nüchtern, etwas sachlich, aber das ist so angenehm unauffällig, so ganz anders als Dominique. Neben ihr kann man leben. Verstehen Sie, was ich meine?«
Marie verschwieg, dass sie Dominique hautnah kennengelernt hatte. Der kurze Aufenthalt mit ihr in ihrer Pariser Wohnung würde in ihrer Erinnerung bleiben. Ja, sie verstand, was Pierre meinte. Aber er hatte Dominique geheiratet. Ihm konnte ihr
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