Irrweg Grundeinkommen
legten die Reallöhne 0,6 Prozentpunkte weniger zu als die Produktivität – die erste Phase der Lohnzurückhaltung.
Nach der Wiedervereinigung bis 2002 nahmen die Nominallöhne um knapp 3,5 Prozent beziehungsweise um 2,5 Prozent zu, je nachdem ob man ab 1991 oder ab dem konjunkturellen Tiefpunkt 1993 rechnet. Bei im Schnitt zwei Prozent Produktivitätssteigerung bot das Raum für 1,5 Prozent beziehungsweise 0,5 Prozent Preissteigerung. Tatsächlich stiegen die Preise jedoch wiederum etwas mehr (1,6 Prozent beziehungsweise 0,9 Prozent), so dass der Reallohn mit 1,8 Prozent beziehungsweise 1,6 Prozent etwas unter der Produktivität landete, wenn auch nicht so stark wie zuvor. Das war die zweite Phase der Lohnzurückhaltung.
Zwischen 2003 und 2008, der dritten und ausgeprägtesten Phase der Lohnzurückhaltung, stiegen die Nominallöhne pro Jahr nur noch um 0,9 Prozent. Die daraus zwangsläufig folgende magere Entwicklung der nominalen Binnennachfrage ließ die Unternehmen nur noch Preissteigerungen von 0,9 Prozent durchsetzen – gemessen an der Zielinflationsrate von zwei Prozent viel zu wenig, gemessen an der Produktivitätszunahme von 1,4 Prozent immer noch enorm viel. Denn die Reallöhne stagnierten bei dieser Kombination aus Nominallohn- und Preisentwicklung, 60 so dass die an sich magere Produktivitätszunahme vollständig den Unternehmern zugute kam. Ihre Gewinne entwickelten sich rasanter als in den Zeiten höherer Produktivitätszuwächse.
Das aber heißt, dass die Strategie der extremen Lohnzurückhaltung in jeder Hinsicht nur den Gewinneinkommensbezieherngenützt hat. Die Geschädigten sind ausweislich der Reallohnentwicklung die Lohneinkommensbezieher und ausweislich der Produktivitätsentwicklung die Arbeitslosen , denn es gilt: ohne genügend Investitionen – das Spiegelbild der mageren Produktivitätszuwächse – keine hinreichenden Arbeitsplatzgewinne. Das Gegenargument, Produktivitätszuwächse seien nun einmal exogen, ist nicht stichhaltig. Schlechte Auslastung durch geringe Nachfrage bedingt schleppende Investitionen und damit zu wenig Innovation und nicht umgekehrt. Es mangelt nicht an guten Ideen, sondern an einem Nachfrage umfeld, das ihre Umsetzung lukrativ erscheinen lässt. Und an Gewinnen, etwa zur Finanzierung von Investitionen, mangelt es schon gar nicht.
Die Entwicklung der Investitionen und der Beschäftigung seit 2005 widerspricht dieser erschreckenden binnenwirtschaftlichen Bilanz in keiner Weise, da sie ausschließlich auf den Nettozuwachs an Auslandsnachfrage zurückzuführen ist. Wie bereits erläutert, ist für den Außenhandel eines Landes seine Inflationsrate – einschließlich der Wechselkursentwicklung – im Verhältnis zu der seiner Handelspartner zentral. Und da schneidet Deutschland aufgrund seiner Lohnstückkostenentwicklung seit über 10 Jahren »exzellent« ab.
Abbildung 17: Lohnstückkosten in vier großen EWU-Ländern
Quellen: OECD; Statistisches Bundesamt; DIW; AMECO Datenbank (Stand: Mai 2012); Werte 2012: Prognose der EU-Kommission; eigene Berechnungen
Aus Abbildung 17 wird deutlich, dass Deutschlands Lohnstückkosten gegenüber den großen Mitgliedsländern der EWU enorm zurückgeblieben sind. 2008 betrug der Abstand zu Italien gut 25 Prozent, zu Spanien sogar 33 Prozent. Das bedeutet, deutsche Produzenten konnten im Durchschnitt ein Viertel bis ein Drittel günstiger anbieten als ihre südeuropäischen Konkurrenten. Auch gegenüber Frankreich legte Deutschland kräftig an Wettbewerbsfähigkeit zu: Der kostenmäßige Abstand wuchs innerhalb von zwölf Jahren auf 20 Prozent an.
Spiegelbildlich dazu gerieten die Leistungsbilanzen der drei genannten Länder Jahr für Jahr immer stärker ins Defizit (in der Spitze importierte Spanien zehn Prozent seines Bruttoinlandsprodukts mehr, als es exportierte), während Deutschland, wie bereits beschrieben, einen Überschussrekord nach dem anderen aufstellte. Dabei bauen sich diese Handelsungleichgewichte keineswegs nur als direkte Salden zwischen den genannten Ländern auf, sondern der Wettbewerb auf Drittmärkten trägt zu der unausgewogenen Situation erheblich bei: Deutschland macht seinen EWU-Partnern auch außerhalb der EWU Konkurrenz, wodurch diese dann auch mit Ländern außerhalb der EWU ins Defizit geraten. Das ist der Grund, weshalb die Leistungsbilanz der EWU insgesamt mehr oder weniger ausgeglichen ist, obwohl Deutschland enorme Überschüsse etwa im Handel mit den USA erzielt. Zugleich schützt die
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