Irrwege
Anne käme ihm zu Hilfe, aber nicht nur
blieb die Zeltklappe geschlossen, sondern man sah eine Hand nach draußen
langen und die Bänder verknoten.
Königin Anne wollte noch weniger etwas mit Lady
Iridal zu tun haben als ihr Gemahl.
Lady Iridal war eine Mysteriarchin, eine aus der
Kaste der mächtigsten Zauberer im Land. Sie hatte Anspruch auf eine höfliche
Begrüßung, also stapfte Stephen ihr durch die Pfützen entgegen.
»Mylady«, sagte er brummig und reicht ihr seine
feuchte Hand.
Iridal ergriff sie kühl. Wegen des Regens
behielt sie die Kapuze ihres Umhangs auf, darunter war ihr Gesicht bleich, aber
gefaßt. Ihre Augen, einst schillernd wie die Regenbögen an der Wasserfontäne,
waren jetzt grau, getrübt von einem Kummer, der sie begleiten würde bis zu
ihrem Tode. Aber sie schien versöhnt zu sein, sowohl mit sich selbst als auch
mit dem ihr auferlegten Schicksal. Stephen fühlte sich immer noch unbehaglich,
aber der Grund war eher Mitleid, Sympathie, nicht länger Schuld.
»Ich bringe Euch Nachrichten, Majestät«, sagte
Iridal, als die Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht waren und man sich
ausreichend über das Mirakel des plötzlichen Wassersegens geäußert hatte. »Ich
bin bei den Kenkari auf Aristagon gewesen. Sie haben mir aufgetragen, Euch
mitzuteilen, daß das Imperanon gestürmt wurde.«
»Ist der Kaiser tot?« fragte Stephen rasch.
»Nein, Hoheit. Niemand weiß sicher, was
geschehen ist, aber alle Anzeichen sprechen dafür, daß Agah’rahn sich – getarnt
mit dem magischen Gewand der Unsichtbaren und von ihnen unterstützt – im
Schutz der Dunkelheit davongemacht hat. Sobald seine Getreuen merkten, daß der
Kaiser geflohen war und sie ihrem Schicksal überlassen hatte, legten sie die
Waffen nieder und ergaben sich dem Prinzen.«
»Das sind gute Neuigkeiten, Mylady. Ich weiß,
der Prinz schreckte davor zurück, womöglich seinen eigenen Vater töten zu
müssen. Dennoch ist es mir nicht lieb, daß Agah’rahn entkommen konnte. Er kann
viel Unheil stiften.«
»Es gibt zahlreiche Dinge in der Welt, die
Unheil stiften können«, meinte Iridal seufzend. »Und das wird auch immer so
bleiben. Nicht einmal dieses Mirakel, das wir erleben dürfen, kann daran etwas
ändern.«
»Aber jetzt sind wir vielleicht besser gewappnet.«
Stephen lächelte. »Hier!« Er stampfte mit dem Fuß auf. »Habt Ihr das gespürt?«
»Was gespürt, Hoheit?«
»Den Boden erzittern. Diese Insel bewegt sich,
sage ich Euch! Wie es im Buche steht.«
»Wenn es so ist, Hoheit, bezweifle ich, daß Ihr
es fühlen könntet. Nach der Beschreibung im Buch wird die Verschiebung der
Inseln und Kontinente sehr, sehr langsam vonstatten gehen. Es wird viele Zyklen
dauern, bevor sie sich an Ort und Stelle befinden.«
Stephen sagte nichts, er legte absolut keinen
Wert darauf, mit einem Mysteriarchen zu diskutieren. Er war überzeugt, daß er
gefühlt hatte, wie der Boden sich bewegte. Er war ganz sicher. Basta! Buch hin,
Buch her.
»Was habt Ihr jetzt vor, Lady Iridal?« wechselte
er das Thema. »Kehrt Ihr ins Hohe Reich zurück?«
Kaum ausgesprochen, hätte er sich am liebsten
auf die Zunge gebissen. Ihr Sohn lag dort oben begraben, genau wie ihr Mann.
»Nein, Hoheit.« Iridal wurde eine Schattierung
blasser, doch ihre Stimme klang fest. »Das Hohe Reich ist tot. Die Hülle, die
es schützte, ist zerstört. Die Sonne verbrennt den Boden, und die Luft ist zu
heiß, um sie zu atmen.«
»Es tut mir leid«, war alles, was Stephen als
Entgegnung einfiel.
»Sorgt Euch nicht meinetwegen, Hoheit. Es ist
besser so. Was mich betrifft, ich werde als Vermittlerin zwischen den
Mysteriarchen und den Kenkari fungieren. Wir haben vor, unsere magischen
Fähigkeiten zu vereinen und voneinander zu lernen, zum Wohle aller.«
»Ausgezeichnet!« sagte Stephen herzlich. Sollten
die verwünschten Hexenmeister doch in Klausur gehen, möglichst für immer, und
anständige Leute in Ruhe lassen. Er hatte keinem von denen je über den Weg
getraut.
Sein Enthusiasmus nötigte Iridal ein Lächeln ab.
Unzweifelhaft erriet sie, was er dachte, war aber zu höflich, um etwas zu sagen.
Im Gegenteil, diesmal war sie es, die das Thema wechselte. »Ihr seid kürzlich
von Drevlin zurückgekehrt, nicht wahr, Hoheit?«
»In der Tat. Meine Gemahlin und ich reisten mit
dem Prinzen, um uns vom Stand der Dinge zu überzeugen.«
»Ihr habt nicht zufällig den Assassinen gesehen,
Hugh Mordhand?« Eine brennende Röte
Weitere Kostenlose Bücher