Isabelle
nicht für sie gesorgt hätte, wäre sie in ein Waisenhaus gekommen.«
Kleiweg nickte. Er spürte eine kurze Aufwallung von Mitleid für das Mädchen, das ein Vierteljahrhundert lang keine anderen Verwandten gehabt hatte als ihre Großtante, die nicht gerade den Eindruck erweckte, als habe sie ihre kleine Nichte abends zur Gutenachtgeschichte auf den Schoß genommen oder sie vor dem Zubettgehen mütterlich umarmt.
»Sind Sie nicht verheiratet?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe immer mein Bestes getan«, sagte sie matt. »Schulen, Hausarbeiten, Klavierstunden, sie hat ihr eigenes hübsches Zimmer, sie ist nach der Geschichte mit diesem Gerard zu mir zurückgekommen, und selbstverständlich habe ich sie sofort wieder aufgenommen. Sie hatte eine gute Stellung. Sie hatte alles, was sie brauchte, und jetzt das …« Sie seufzte. »Was könnte ich denn sonst noch tun? Ich bin eine alte Frau.«
Ob sie ein Mensch war oder ein Fisch oder ein Ding, Isabelle wusste es nicht. Sie trieb unter Wasser wie ein Fisch, aber sie konnte sich nicht bewegen. Das Wasser war glasklar, und sie sah die Oberfläche über sich, ein dünner Spiegel aus gelblichem Licht, der glitzerte und sich durch kleine Wellen und Strömungen kräuselte. Der spitze Bug eines Bootes brach durch den Spiegel, sie sah, wie der Rumpf das Wasser verdrängte, und sie geriet in Panik, weil sie eine Vorahnung von dem hatte, was der Mann auf dem Schiff tun wollte, und sie bewegte Arme und Beine, kam aber nicht vom Fleck, als ruderten ihre Gliedmaßen durch Luft anstatt durch Wasser. Der Rumpf des Bootes wurde schwärzer und größer, so dunkel wie der Mann, der darin stand, mit dem Ding in der Hand. Für einen Moment blieb alles still. Die Silhouette des Mannes hob sich vor dem Licht des Spiegels ab. Dann kam eine träge Bewegung, und sie sah den Speer, die Harpune, ein Schatten aus schwarzem Metall, der durch das Wasser auf sie zukam. Sie konnte ihm nicht entgehen, sie hatte keine Flossen, keine Kiemen, keine Arme, sie konnte nur auf das blendende Licht starren und auf den unentrinnbaren dunklen Schaft, der sich durch das Wasser bohrte und in ihren Körper eindrang.
Sie schrie.
»Ganz ruhig«, sagte jemand in weiter Ferne. »Doktor!«
Sie spürte, dass sie auf dem Rücken lag, genau wie damals, aber das Gewicht war weg.
Die Stimme war nicht die von Ben, sondern gehörte einer Frau. Isabelle hielt die Augen geschlossen und versuchte, ihre Zehen zu fühlen, ihre Beine, ihren Bauch. Irgendetwas steckte in ihrem Arm, aber es tat nicht weh. Der Schmerz konzentrierte sich nicht mehr auf eine bestimmte Stelle in ihrer Schulter, sondern durchzog dumpf ihren ganzen Körper. Ihr war schwindelig, und sie fühlte sich wie betäubt. Sie hatte an Ben gedacht, und nun sah sie ihn vor sich.
»Eine Harpune durch seine Hand«, murmelte sie mit trockenem Mund.
»Isabelle?«
Sie blinzelte. Ein Mann beugte sich über sie, hinter ihm eine gleichmäßig weiße Zimmerdecke. Isabelle bewegte den Kopf und sah eine Krankenschwester neben einem Tropf stehen. Beim Anblick der Schwester füllten sich ihre Augen mit Tränen.
»Ich bin Doktor Emmering«, sagte der Mann. »Sie haben einen Unfall gehabt und liegen im Krankenhaus.«
Isabelle bewegte die Lippen. Der Arzt machte der Schwester Platz, die mit einer Hand Isabelles Kopf anhob und ihr einen kleinen Becher Wasser an die Lippen hielt. Isabelle trank.
»Sie sind zwei Tage lang bewusstlos gewesen«, erklärte der Arzt. »Aber es wird alles wieder gut. In einer Woche dürfen Sie nach Hause. Gestern haben Sie Besuch von Ihrer Tante gehabt.«
»Wo ist Ben?«, flüsterte Isabelle.
»Sie müssen jetzt stark sein.« Der Arzt verschwand aus ihrem Blickfeld, und sie hörte nur noch seine Stimme. »Hat jemand unter dieser Nummer angerufen?«
Isabelle schloss die Augen, das Dunkel war sicherer als das Licht. Sie sah den scharlachroten Regen. Ben war tot. Sie hatte noch nie jemanden verloren, und schon gar nicht ihre andere Hälfte, aber nun kannte sie die Bedeutung dessen, was sie einmal gelesen hatte: Es war, als schlössen sich die Türen.
»Sie verliert wieder das Bewusstsein«, hörte sie die Krankenschwester sagen.
»Das ist ganz normal.«
Ben war tot. Ihre Herz krampfte sich zusammen. Sie sank zurück in die Dunkelheit.
Sie schrie erstickt auf in ihrem Albtraum, als der grelle Lichtschein auf ihren Augenlidern brannte. Ben lag schwer auf ihrer Schulter. Isabelle blinzelte mit den Augen. Ben war nicht da, und das
Weitere Kostenlose Bücher