Isabelle
denn?«
»Nichts. Nun ja, sie hat eine halbe Stunde lang neben dem Sarg gesessen und ist dann wieder weggegangen. Andere Leute habe ich nicht gesehen.«
Ihr war, als klänge seine Stimme vorwurfsvoll, als nähme er es ihr übel, dass sie Ben so mutterseelenallein in seinem Sarg liegen ließ, aber seit seinem Tod sah und hörte sie überall Gespenster, und so war auch das wohl bloße Einbildung. Hogedoorn musste doch einsehen, dass sie kein Theater wollte. Keine Blumen, keine Karten, nur zwei Anzeigen im Nachhinein, eine von der Witwe Colijn und eine von der Firma. Ihre Mutter war glücklicherweise damit einverstanden. Keine Kränze, keine Reden und keine Heuchelei. Die Totenwache hielt sie abends, wenn sie allein im Bett lag. Das ging die Medien nichts an, das ging das Dorf nichts an, das ging niemanden etwas an. Sie durchquerte das Haus, verließ es durch die Hintertür und ging am Swimmingpool vorbei zum großen Treibhaus, wo Johan aus Achtung vor seinem früheren Chef nach dessen Tod die Orchideen weiterhin versorgt und am Leben erhalten hatte. Die Orchideen waren Brams Hobby gewesen, neben Angeln und Segeln gemeinsam mit seinem Schwiegersohn. Wer weiß, vielleicht konnten sie jetzt im Jenseits gemeinsam ihren Hobbys frönen.
Johan war nicht im Treibhaus. Judith ging die Reihen der empfindlichen Pflanzen ab und suchte in Gedanken zwölf von den schönsten aus, die sie morgen früh pflücken und mit zum Friedhof nehmen wollte.
Letty kam mit einer kleinen Reisetasche in der Hand und einer Zeitung unterm Arm ins Krankenzimmer. »Das Auto steht vor der Tür«, sagte sie. »Ich bin mit deinem gekommen. Ich bringe dich nach Hause und fahre dann mit dem Bus heim.«
Sie ließ die Tasche auf den Boden fallen, beugte sich über Isabelle und gab ihr einen Kuss.
»Du riechst nach Kampfer. Tun sie dir das in deine Medizin oder isst du Mottenkugeln?« Sie redete in einem fort. »Hier sind deine Sachen. Als ich sie ausgesucht habe, hat Tante Maran mir über die Schulter geguckt, als wolle ich heimlich deine sexy Unterwäsche nach hinten schieben.«
»Ich habe keine sexy Unterwäsche«, erwiderte Isabelle.
»Wenn man den Artikel hier liest, könnte man es aber meinen.« Letty wedelte mit einer überregionalen Tageszeitung. »Du siehst besser aus als beim letzten Mal. Auch besser als auf dem Foto.«
»Ist es sehr schlimm?«
Letty grinste. »Du hättest wohl kaum eine Chance, wenn die Leser sich zwischen dir und der Ehefrau entscheiden müssten.« Sie schlug die Zeitung auf und blätterte von hinten ein paar Seiten weiter nach vorn. »Willst du’s jetzt sofort wissen oder wollen wir erst hier raus?«
»Ich kann erst gehen, nachdem der Arzt hier gewesen ist.«
Letty betrachtete ihre Freundin. Isabelle schien dünner geworden zu sein. Sie hatte zwar wieder etwas Farbe im Gesicht, aber ihr Haar wirkte stumpf und ihr Blick war weit weg und in sich gekehrt. Letty versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, wenn ihr so etwas passierte wie ihrer Freundin. Sie hatte Mitleid mit Isabelle, aber das war nicht die richtige Medizin. Shampoo und Lippenstift, das war es, was sie brauchte.
»Irgendwann wirst du ja doch der Wahrheit ins Auge sehen müssen«, bemerkte sie.
»Ich wünschte, ich könnte einfach verschwinden«, sagte Isabelle. »Bis man mich vergessen hat und Ben und …«
Letty nahm sich den Stuhl. »Du bist berühmt. Du könntest höchstens das Glück haben, dass morgen ein Minister ermordet wird oder man übermorgen Heroin in der Nudelsuppe vom Altersheim Abendruh findet. Du siehst also, es gibt noch Hoffnung. Wirst schon sehen, in zwei Wochen ist alles vorbei.«
Isabelle schwieg. Alles ging vorbei, nur nicht für sie. Sie war für alle Zeiten verändert. Ihr würden die Albträume bleiben und der schreckliche Schmerz, und sie würde nie mehr dieselbe sein wie früher. Sie würde alles, ihre Umwelt und ihre Mitmenschen, für immer durch einen Schleier von rotem Regen sehen.
»Dein Leibwächter meint, niemand wüsste, dass du heute entlassen wirst«, sagte Letty munter. »Kein Mensch weiß, wo du wohnst, und wir nehmen gleich den Hinterausgang.«
»Ist der Polizist immer noch da?«
»Ja, aber ein anderer als letztes Mal. Er wollte kontrollieren, ob ich auch keinen Fotoapparat in der Tasche habe. Schwester Jolande hat ihn aber noch rechtzeitig bekehrt, bevor er seine Handschellen gezückt hat. Sie ist ein Schatz. Wann kommt denn der Arzt?«
»So gegen elf.«
»Ich hab den ganzen Tag frei. Du musst nicht sofort
Weitere Kostenlose Bücher