Isabelle
aus.«
Judith stellte ihre Handtasche neben sich auf den Stuhl und strich mit den Händen über ihren grünen Rock, der perfekt zur Farbe ihrer Augen passte. »Ihr Büro ist eine richtige Bruchbude«, sagte sie dann. »Wenn der Staatsan walt Sie mir nicht empfohlen hätte, hätte ich hier keinen Fuß hineingesetzt. Es sieht aus wie in einem schlechten Film. Sie könnten mehr Klienten haben, wenn Sie sie in einem anständigen Büro empfangen würden.«
Max lächelte sie an.
»Wenn sich Ben Hals über Kopf in sie verliebt hat, muss sie wirklich ein außergewöhnlicher Mensch sein«, sagte Judith. »Wenn dem so ist, möchte ich auch das wissen.«
Sie hielt ihre Hände ruhig und schaute ihn an. Winter sah genauso schäbig aus wie sein Büro. Er trug eine brau ne Hose, die er wahrscheinlich jeden Abend zwischen Matratze und Lattenrost legte, um ihr einen Hauch von Form zu verleihen, und dazu ein verschlissenes Jackett. Er war ein paar Kilo zu schwer, und das Haar auf dem Schädel über seinem markanten Gesicht lichtete sich. Er erinnerte sie vage an Ben, der auch zur Schlampigkeit geneigt und dieselben Züge von Widerspenstigkeit und Unnahbarkeit an sich gehabt hatte. Er reizte sie, weil sie spürte, dass er absichtlich kein Wort sagte, um sie aus der Reserve zu locken.
»Verstehen Sie, was ich meine?«, fragte sie schließlich.
»Sie meinen, außergewöhnlicher als Sie?«
Sie ignorierte seine Ironie. »Die Polizei glaubt, dass sie nichts mit dem Mord zu tun hat, aber ich bin nicht davon überzeugt. Seine Brieftasche ist verschwunden. Vielleicht war es Raubmord. Vielleicht hat sie mit einem Freund zusammengearbeitet und vielleicht kam dieser Freund herein, um Ben auszurauben, und die Situation eskalierte. Wie dem auch sei, ich will es wissen. Ich finde keine Ru he, bevor ich es nicht weiß.« Judith stand auf. »Es bedeu tet eine Kränkung für mich. Es ist, als würde mich je mand beleidigen und ich könnte nichts darauf erwidern.«
Eine Kränkung, das konnte er gut verstehen.
Isabelle hörte einen Vogel singen, direkt unter ihrem Fenster, das einen Spalt offen stand und nur locker von einem Häkchen gehalten wurde. Wahrscheinlich saß er im Weißdornbusch, der hinten im kleinen Garten stand. Vielleicht hatte der Vogel sie geweckt. Es konnte eine Amsel sein oder eine Meise oder vielleicht eine Nachtigall, sie kannte sich nicht so mit Vögeln aus, aber sein Gesang war das einzige Geräusch weit und breit, glasklar und paradiesisch. Er bewirkte, dass sie gern im Bett geblieben wäre, um nur dem Vogel zuzuhören.
Jetzt fing er wieder an. Er rief in ihr ein Verlangen nach Orten wach, die sie nicht kannte, an denen sie aber gerne wäre. Sie hatte gut geschlafen, ungestört von Albträumen.
Das laute Klingeln des Weckers unterbrach jäh den Vogelgesang, und mit einem Ruck setzte sie sich auf. Mit einem Schlag schaltete sie den Wecker aus, und durch die plötzliche Bewegung wurde ihr für einen kurzen Moment schwindelig. Sie saß aufrecht und stellte sich vor, dass es andere Orte geben musste oder ein besseres Leben, wo man von Vögeln geweckt wurde anstatt von Weckern.
Isabelle stand auf und ging träge durch den Flur ins Badezimmer. Sie zog ihr Nachthemd über den Kopf und betrachtete die Narbe auf ihrem Oberarm, die noch ein bisschen gerötet war und manchmal etwas juckte. Die Narbe würde für immer bleiben, eine verblassende Spur von Ben, das Einzige, was ihr von ihm blieb. Sie wusste, sie würde ihr Leben lang an Ben denken, immer wenn sie im Spiegel die Narbe sah.
Tante Maran hatte schon Frühstück gemacht und schenkte Tee ein, mit den präzisen, behutsamen Bewegungen des Alters. Das Zimmer roch nach Velours und nach Bohnerwachs auf altem Holz, begleitet von einer Prise Kampfer und Staub. Seit der Nacht im Gasthaus nahm Isabelle Gerüche deutlicher wahr, und alles fühlte sich anders an, als hätten sich ihre Sinnesorgane irgendwie verändert. Die Stimme ihrer Tante wirkte ein bisschen schriller und ihr Klavier klang dumpfer, nur der Vogel hörte sich frisch und glasklar an, als könne kein menschliches Ohr seinen Gesang verzerren.
»Was lächelst du denn so?«, fragte Tante Maran.
Isabelle schüttelte den Kopf. Sie hatte Hunger und nahm sich noch eine Scheibe Brot, die sie mit einer Käsescheibe zusammenfaltete und mitnahm, als sie zur Tür ging. »Ich komme zu spät«, erklärte sie.
»Fahr vorsichtig«, mahnte Tante Maran automatisch. Isabelle erkannte, dass sie noch ihr übliches »Sei vor dem
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