Isabelle
den Weidensträuchern außer Sicht. Vielleicht musste sie dringend aufs Klo.
Max wartete im Auto. Als das Mädchen nach ein paar Minuten noch nicht zurückgekehrt war, holte er sein Fernglas aus dem Fach im Armaturenbrett und stieg aus. Er hängte sich das Fernglas um den Hals und spazierte über den Deich zu ihrem Auto. Neben dem Renault blieb er stehen und betrachtete über den Metallzaun hinweg die Überschwemmungsgebiete. Es war eine friedliche Landschaft mit Schilfstreifen, Weiden und von schmalen Gräben durchzogenen Wiesen, die sich vom Deich aus in Wellen abfallend Hunderte von Metern weit bis hin zum niedriger gelegenen Flussdeich erstreckten. Insekten summten, Kiebitze taumelten durch die lauen Lüfte, weiße und blaue Schmetterlinge flatterten auf der Suche nach Nektar umher, den man förmlich riechen konnte. Hinter dem Außendeich glitten Frachtschiffe vorbei, geräuschlos, weil Max die Brise im Rücken hatte, sodass er nur die Traktoren auf der dem Land zugewandten Seite hören konnte.
Er erblickte das Mädchen erst, als sie das Ende der Weidenpflanzung erreichte, eine immer kleiner werdende Gestalt, die durch die Wiesen in Richtung Außendeich lief, wo das Gras spärlicher und dünner wurde. Sie ging zielstrebig, ohne sich umzuwenden oder nach links oder rechts zu schauen, als wüsste sie genau, wo sie hinwollte. Ihm kam der beunruhigende Gedanke, dass der Brief vielleicht ein Abschiedsbrief gewesen war und er gleich die hundert Meter in zehn Sekunden würde zurücklegen müssen, falls sie sich entschließen sollte, für immer über den Deich zu verschwinden.
Sie schien ihm zwar nicht der Typ dafür zu sein, aber er kannte sie ja bisher nur vom Sehen und konnte sich irren. Sie hatte noch nicht einmal ihr Auto abgeschlossen. Ein linierter Schreibblock lag aufgeschlagen auf dem Beifahrersitz.
Max blickte um sich. Der Deich war menschenleer. Er öffnete die Beifahrertür und sah, dass sie die Autoschlüssel mitgenommen hatte. Das beruhigte ihn einigermaßen. Sie war einfach nur vertrauensselig, wie vermutlich die meisten Leute hier.
Er nahm den Schreibblock und blätterte die weißen linierten Seiten durch. Auf dem ersten Blatt konnte er keinen Schreibabdruck feststellen, sie musste ein Blatt abgerissen und die weiche Pappe des Umschlags als Unterlage benutzt haben. Im Handschuhfach fand er eine Mappe mit Autopapieren zwischen Papiertaschentüchern, Kugelschreibern, einer Schachtel Aspirin und einer angebrochenen Rolle Pfefferminzbonbons, dazu eine noch verschlossene Schachtel Binden, einen Schraubenzieher und ein mit einem Gummiband zusammengehaltenes, eingerolltes Heft. Max schob das Gummiband von der Rolle und betrachtete verwundert den Umschlag einer Sammlung von Klavierstücken, die Nocturnes von John Field.
Er notierte die Adresse, die auf ihren Autopapieren stand, und legte alles zurück ins Handschuhfach. Er stieg aus und ging hinüber zum Zaun, lehnte sich an die obere Metallstange und stellte sein Fernglas ein.
In der Ferne sah er, wie das Mädchen den niedrigen Deich erklomm und sich, oben angekommen, hinsetzte. Sie saß mit dem Rücken zu ihm, sodass er nur ihre dunklen Locken über der grünen Sommerjacke erkennen konnte. Wahrscheinlich schaute sie auf den Fluss oder lauschte mit geschlossenen Augen den Sommergeräuschen.
Sie hätte über alles Mögliche nachdenken können. Über diesen unbegreiflichen Impuls, der in ihrem Leben das Unterste zuoberst gekehrt hatte. Über die Tatsache, dass sie entlassen worden war und nicht so leicht eine andere Arbeit finden würde, nachdem man sich in den Medien über sie das Maul zerrissen hatte. Max versuchte sich vorzustellen, wie sie sich fühlen musste. Sie hätte seine Tochter sein können, doch er hatte keine Töchter und wusste nichts über junge Frauen. Er wusste noch nicht einmal besonders viel über seine Freundin Marga, die sich mit Hilfe ihrer Mischung aus irdischen und überirdischen Instinkten zweifellos besser in ihre sechsundzwanzigjährige Geschlechtsgenossin hätte hineinversetzen können. Vielleicht war dies der richtige Moment, zu dem Mädchen hinüberzuspazieren und sie nach dem Grund für ihre unbegreifliche, spontane Tat zu fragen.
Er hatte den Auftrag von Judith Colijn angenommen, und er nahm auch ihr Geld an, aber er hatte keine Ahnung, was er in seinem Bericht über dieses Mädchen schreiben sollte. Berichte enthielten Tatsachen und Umstände, der Rest war etwas für den Psychiater. Wie und was und wo. Das Warum allerdings
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