Isabelle
Gerard gezogen ist. Ich habe gedacht, sie wäre vielleicht wieder zu ihm zurückgegangen. Deshalb habe ich im Restaurant angerufen und mit ihrer Freundin Letty gesprochen. Sie hat mir erzählt, dass Isabelle schon seit zwei Wochen nicht mehr dort arbeitet. Ich glaube, sie haben ihr gekündigt, wegen dieser ganzen Scherereien …«
»Haben Sie sich mit ihr gestritten?«
»Nein, das nicht. Isabelle war seit diesem … Ereignis sehr zurückhaltend, und ich war auch aus dem Gleichgewicht. Die Polizei im Haus …« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe ja schon einiges mit den Nachkommen meiner Schwester mitgemacht, aber dass man so was noch erleben muss!«
Max nickte mitfühlend. »Haben Sie irgendeine Ahnung, wo sie sich tagsüber aufhielt, nachdem sie ihre Stelle im Restaurant verloren hatte?«
»Nein, ich wusste gar nicht, dass man ihr gekündigt hatte. Sie ging wie immer morgens aus dem Haus und kam abends wieder. Letzte Woche kam sie mit Kratzern im Gesicht nach Hause, von Brombeeren oder Dornensträuchern, danach sah es jedenfalls aus. Ich habe sie gefragt, ob sie jetzt vielleicht auch im Garten des Restaurants arbeitete, aber sie sagte nur Nein und ging nach oben. Womit habe ich das verdient?« Die alte Dame schüttelte missmutig den Kopf. »Am nächsten Tag kam ein Brief für sie.«
»Wissen Sie, von wem?«
»Nein.« Sie verzog den Mund, sodass sich ringsum Falten bildeten. »Vielleicht hätte ich ihn öffnen sollen, den ganzen Tag habe ich überlegt, ob ich es tun sollte oder nicht. Es ist nicht meine Art, anderer Leute Post zu öffnen. Abends gab ich ihr dann den Brief. Ich habe sie gefragt, wen sie denn in Middelaar kennt …«
»Middelaar? In Limburg?«
»Ja, das stand auf dem Poststempel. Isabelle antwortete, sie hätte dort Bekannte. Während ich in der Küche war, hat sie diese Leute angerufen, und ich hörte, wie sie sagte, sie würde am nächsten Morgen vorbeikommen. Ich habe sie gefragt, ob sie nicht arbeiten müsse, aber sie wollte nichts sagen.«
»Glauben Sie, dass sie in Middelaar ist?«
Sie spitzte die Lippen und sagte: »Von Bekannten in Middelaar habe ich noch nie gehört und eigentlich hatte Isabelle nie Geheimnisse vor mir. Sie hat ihr ganzes Leben bei mir verbracht. Ich bin ihre einzige Verwandte, aber ich war anscheinend nicht im Stande, ihr zu helfen. Ganz sicher wird es böse mit ihr enden, genau wie mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter.«
Max lächelte der blonden jungen Frau zu, die eine Kellne rinnenuniform in zwei verschiedenen Violetttönen trug. »Letty van Dalen?«
»Ja, das bin ich.«
»Mein Name ist Max Winter. Haben Sie einen Moment Zeit? Ich würde mich gerne mit Ihnen unterhalten.«
Sie war in den Zwanzigern, hatte widerspenstiges Haar, das ihr bis auf die Schultern fiel, und offen blickende blaue Augen, die ihn jetzt argwöhnisch musterten. »Wo rüber denn?«
»Isabelles Tante möchte gerne wissen, ob mit ihrer Nichte alles in Ordnung ist«, antwortete Max. »Sie macht sich ein bisschen Sorgen …«
Das Mädchen verzog den Mund. »Ich kann Ihnen lei der nicht helfen.« Sie war sichtlich zwischen Misstrauen und Neugier hin und her gerissen. »Ich bringe Ihnen einen Kaffee.«
Max ging ins Restaurant hinein und wählte einen Tisch an der Zwischenwand. Es war nicht viel los. Klaviermusik klang gedämpft und kühl wie Wasser aus verborgenen Lautsprechern. Draußen, vor den großen Fenstern, be schien die Sonne strahlend die Verkehrsströme auf der Autobahn. Er warf einen Blick hinüber zum Tresen, wo Letty etwas zu einem Kollegen sagte und die Kaffeema schine mit denselben routinierten Gesten bediente, die Isabelle Tausende von Malen ausgeführt haben musste. Er fragte sich, wie es wohl war, hier zu arbeiten, und kam zu dem Schluss, es sei sicher angenehmer als in einer Fabrik oder im Büro.
Letty stellte ein kleines Tablett mit Kaffee vor ihn hin. »Ich weiß nicht, wo Isabelle ist, das habe ich ihrer Tante auch schon gesagt.«
»Machen Sie sich denn keine Sorgen? Sie beide sind doch Freundinnen?«
»Nein, ich mache mir keine Sorgen«, antwortete Letty. »Ich glaube, sie möchte einfach eine Weile weg von ihrer Tante.« Sie schaute Max mit zweifelndem Blick an und sagte vorsichtig: »Ich bin ein paarmal da gewesen. Ziemlich bedrückend, die Atmosphäre dort.«
Max lächelte. »Ich weiß schon, was Sie meinen, aber immerhin hat die gute Frau fünfundzwanzig Jahre lang für Isabelle gesorgt. Ich habe im Übrigen nicht vor, Ihrer Freundin Unannehmlichkeiten zu
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