Isabelle
Idee gekommen, Kälber in Kisten oder kleinen Verschlägen zu halten.
»Wenn man Milchwirtschaft betreibt, hat man bloß einen Haufen Gedöns und Ärger mit den Quoten«, hatte Fons ihr erklärt. »Ich bin zu alt dafür, und Frans hat seinen Beruf. Wir verkaufen Gänseeier an die Deutschen, die sind ganz verrückt danach. Manchmal schmieden wir abends Pläne, dann nehmen wir uns vor, Kirschen zu pflücken und so ein Schild an die Straße zu stellen: ›Frische Kirschen‹. Frans könnte seine Stelle aufgeben und wir würden Spargel anbauen, wie unser Nachbar zwei Höfe weiter, der verdient ein Vermögen damit. Aber am nächsten Morgen sagen wir uns dann, ach, wozu denn, wir brauchen das alles doch gar nicht.«
»Bestimmt hat Gertrude dich sehr geliebt«, sagte Isabelle.
Fons nickte. Manchmal wurde sein Blick wehmütig vor Trauer um seinen Verlust. »Sie war die beste Frau der Welt«, sagte er. »Viele Leute begreifen so was erst, wenn es zu spät ist, aber ich hatte das Glück, dass ich mir dessen bewusst war, solange sie lebte. Dadurch war bei uns alles anders.«
Isabelle hatte keine Albträume mehr, aber Ben war allgegenwärtig. Manchmal gelang es ihr, ihn für einen halben Tag in den Hintergrund zu drängen, irgendwo in eine Ecke ihres Hinterkopfes oder in einen Winkel ihres Herzens. Ihr Umfeld trug das seine dazu bei. Aber wenn sie Fons über Gertrude sprechen hörte, fragte sie sich oft, wie es gewesen wäre, wenn Ben nicht ermordet worden wäre. Hätte das ekstatische Gefühl auch noch angehalten, wenn das alltägliche Genörgel begonnen hätte, wenn sie irgendwo darauf hätte warten müssen, ob er nun an diesem Abend kam oder nicht? Gute Vorsätze, Pläne für eine Scheidung, Hin und Her mit Rechtsanwälten, eine kleine Wohnung in der Stadt. Vielleicht wäre sie die glücklichste Frau der Welt geworden, aber vielleicht hätte sie sich auch nach ein paar Monaten wie eine x-beliebige Mätresse gefühlt.
Manchmal überkam sie eine Wut darüber, dass sie nie die Gelegenheit erhalten hatte, es auszuprobieren. So hatte sie nichts und wusste nichts, sie konnte es sich nur in ihrer Fantasie ausmalen.
Manchmal konnte sie sich nicht einmal mehr vorstellen, wie er ausgesehen hatte, dann musste sie sich das Foto anschauen, das sie aus einer Zeitung ausgeschnitten hatte. Es war eine schlechte Abbildung, schwarzweiß, und man konnte darauf nicht erkennen, dass sein Haar honigblond gewesen war, durchzogen von ein bisschen Grau, dass er blaue Augen gehabt hatte, oder wie sich sein Mund angefühlt hatte, als er auf ihr gelegen hatte und in sie eingedrungen war.
»Das hier ist kein Waisenhaus«, sagte die strohblonde Direktorin in leicht beleidigtem Tonfall, »sondern ein Kinderdorf. In den sechziger Jahren ist unsere Einrich tung hierher umgezogen. Heute verfügen wir über acht Wohneinheiten mit je zehn bis zwölf Kindern in ver schiedenen Altersstufen, mit einer Art Vater und Mutter, die sie meistens beim Vornamen nennen. Die Kinder besuchen Schulen in der Stadt, und wir tun alles in unse rer Macht Stehende, um ihnen ein normales Familienum feld zu bieten.«
»Laufen viele von ihnen weg?«, fragte Max.
»Nein, nur wenige.« Sie wies mit einer Handbewegung auf das große Fenster in ihrem Büro. »Warum sollten sie auch?«
Er folgte ihrem Blick über den weitläufigen Komplex mit viel Grün und einem Sportplatz, der hinter einer Rei he eckiger Bauten lag. Einheiten. Das Ganze wirkte freundlich und deprimierend zugleich. Wie immer sie es auch nennen mochten: Es war ein Ort, an dem niemand aus Spaß oder freiwillig seine Jugend verbrachte. Waise zu sein war etwas, wogegen man nichts tun konnte, man wurde es durch Umstände, auf die man keinen Einfluss hatte, es sei denn, man schoss seine Eltern selbst über den Haufen, aber in dem Fall landete man in einer geschlos senen psychiatrischen Einrichtung. Dies hier war eine offene Institution, es gab kaum Zäune und man hatte die Möglichkeit wegzulaufen – aber wohin? Hier konnte man umsonst wohnen und essen, man war mit Schicksalsge nossen zusammen und hatte Ersatzeltern. Vielleicht gab es genug zu lachen, um den Drang zum Weglaufen zu vergessen, und vielleicht war es hier besser als bei einer alten Tante.
»Ich kann mir vorstellen, dass das ein himmelweiter Unterschied ist«, sagte Max freundlich. »Ich meine, zwi schen dem heutigen Kinderdorf und dem Heim, in dem Ben Visser als kleiner Junge lebte. Er ist weggelaufen und hat auf einem Schiff angeheuert, nicht
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