Isabelle
Urteil über sie zu fällen, beruhigten sie.
»Darf ich mich setzen?«, fragte Max.
»Ja, natürlich.« Sie besann sich auf ihre Umgangsformen. »Möchten Sie etwas trinken? Vielleicht einen Tee?«
Er wählte den niedrigen Lehnstuhl, der rechtwinklig zum Sofa stand. »Lieber nicht. Über mir wohnt eine japanische Geigerin, die mich manchmal zu grünem Tee einlädt. Der ist schrecklich bitter. Dadurch bin ich von Tee so ziemlich kuriert.«
»Eine Geigerin?«, fragte Isabelle. »Für klassische Musik?«
»Sie ist Mitglied des Concertgebouw-Orchesters. Ihr Freund spielt Oboe. Ich höre sie oft. Ich mag es gern, jedenfalls solange sie nicht gerade Bartok übt.«
Isabelle lächelte. Manchmal vermisste sie ihr altes Klavier. »Cognac ist leider keiner mehr da, aber ich habe Wein und Portwein.«
Sie war froh, dass er sich für Portwein entschied, sodass sie ein Gläschen mittrinken konnte. Sie hatte das Bedürfnis, von innen gewärmt und beruhigt zu werden.
Max beobachtete sie, während sie den Portwein in die Gläser füllte, einen für ihn auf das Tischchen neben sei nem Sessel stellte und sich mit dem anderen auf dem Sofa niederließ. Er versuchte sich vorzustellen, was Ben Visser auf den ersten Blick in ihr gesehen hatte und was in ihm einen so unbändigen Impuls der Verliebtheit, des Verlan gens oder des Besitzenwollens ausgelöst hatte, dass er seine Verpflichtungen vergaß und alles andere beiseite schob. Dabei schien Isabelle ihm nicht der Typ Frau zu sein, in den man sich auf den ersten Blick verliebte. Sie war nett anzusehen, hatte warme hellbraune Augen, die ein wenig dicht beieinander standen, ein ovales Gesicht, dunkles lockiges Haar, eine kleine Nase, einen weichen Mund und schön geformte Lippen. Aber sie wirkte eher wie eine Frau, für die man Zeit brauchte, um sie zu ent decken, man musste etwas länger und genauer hinschau en, um ihre besondere, etwas geheimnisvolle Ausstrah lung zu entdecken, eine Mischung von Unschuld und Zauber, einen Charme, der aus ihrem Inneren kam und nichts Gekünsteltes hatte.
»Ich muss mit dir über Ben reden«, sagte er. »Ich möchte dir nicht unnötig wehtun oder dich aufregen, aber ich brauche deine Hilfe.«
»Ich habe damals der Polizei schon alles erzählt, was ich wusste. Es war nicht viel.«
»Sagt dir der Name Alex Hinstra etwas?«
»Nein.«
»Unter diesem Namen hat er sich im Hotelregister eingetragen.«
Der Gedanke machte sie traurig. Einen falschen Namen gaben Männer bei einem ordinären Seitensprung an. Sie wusste so wenig über Ben, dass sie nur zu leicht von Misstrauen überfallen wurde, eine bittere Vision von einem Leben voller Lügen und geheimer Verabredungen, Telefoncodes, Briefen und Winkelzügen, falschen Versprechungen und Hingehaltenwerden, während alles in dieser Nacht echt und unvermeidlich geschienen hatte, zu ehrlich und zu sauber, um Heimlichtuerei vertragen zu können.
Max sah ihren Gesichtsausdruck. »Es ist nicht so, wie du denkst. Alex Hinstra war sein richtiger Name, seitdem er von einem Lehrerehepaar in Friesland adoptiert worden war.«
Alex, dachte sie. Es beruhigte sie ein wenig, aber sie konnte nur als Ben an ihn denken. Alex passte nicht zu ihm. »Warum nannte er sich dann Ben Visser?«
»Soweit wir es überprüfen können, ist er vor zehn Jahren als Zeuge für die amerikanischen Justizbehörden aufgetreten. Im Gegenzug haben sie ihm eine neue Identität verschafft, um ihn vor der Mafia zu schützen.«
Ich weiß nichts über Ben, dachte sie zum tausendsten Mal. »Aber das hat ihm ja wohl nichts genützt«, sagte sie mutlos.
»Vielleicht passte seine amerikanische Vergangenheit aber auch nur dem Mörder gut in den Kram, weil die Polizei dadurch auf eine falsche Fährte gelockt wurde.«
Isabelle trank einen Schluck von ihrem Portwein. Die Worte »Mord« und »Mörder« im Zusammenhang mit Ben bereiteten ihr noch immer Schwierigkeiten. »Warum hat man ihn dann ermordet?«, fragte sie.
»Hat er etwas über Frankreich erzählt?«
»Nein.« Da war sie sich ganz sicher. Sie konnte sich noch an jeden Satz erinnern, jede Intonation.
»Worüber habt ihr euch unterhalten?«
»Praktisch über nichts«, flüsterte sie. »Wichtiger war das, was unausgesprochen blieb.«
Ja, das war das eigentlich Wichtige gewesen, dachte Max. Ihm leuchtete das ein. »Zwei Menschen sehen sich über einen Saal voller Leute hinweg an, und der Blitz schlägt ein«, hatte Marga gesagt und spöttisch hinzugefügt: »Ich glaube an so was Verrücktes.
Weitere Kostenlose Bücher