Isabelle
Es war mein Fehler, ich war mit meinen Gedanken nicht bei der Sache. Ich wurde zu einem Risiko für die anderen, und mir wurde klar, dass mein Partner sicherer war, wenn ich mich von ihm fern hielt. Man gab mir einen Bürojob, aber ich wusste, dass die Sache mit der Kugel nur eine Folgeerscheinung war, und ich hatte wenig Lust auf die Pflichttherapie. Nachdem ich mich ungefähr ein Jahr lang rumgequält hatte wie Raskolnikow, bin ich schließlich ausgestiegen.«
»Hast du deshalb nie wieder geheiratet?«
»Das müsstest du einen Psychiater fragen. Eine zweite Heirat ist der Triumph des grenzenlosen Optimismus über den gesunden Menschenverstand.« Max lachte leise vor sich hin. »Außerdem hat sich die Frage nicht mehr gestellt. Marga sträuben sich schon bei dem Gedanken daran die Haare, und wahrscheinlich hat sie Recht. Manchmal beneide ich allerdings so jemanden wie Isabelle, die einfach so aus dem Nichts heraus und vollkommen unüberlegt aus Liebe alles fallen lässt. Ich möchte gerne glauben, dass es so etwas gibt, aber mir ist das noch nie passiert. Im Übrigen kann ich mich bei Isabelle des Gefühls nicht erwehren, dass noch etwas anderes eine Rolle spielte als Liebe auf den ersten Blick. Ich weiß nur nicht recht, was und ob es etwas zu bedeuten hat.«
»Was willst du denn noch mehr als Liebe auf den ersten Blick?«
Max hob seinen Ellenbogen in ihre Richtung und tastete im Dunkeln mit der freien Hand nach ihrem Gesicht. »Ich rede zu viel«, sagte er.
Sie blieb still liegen, während er seine Hand über ihre Nase und ihren Mund hielt, sodass er ihren Atem in seiner Hand spürte. Er beugte sich über sie, nahm seine Hand von ihrem Mund und küsste ihre Lippen.
»Gute Nacht.«
»Ich kann in dir lesen wie in einem offenen Buch«, flüsterte Nel. »Ich könnte dich ohne weiteres verführen.«
»Das ist gegen die Abmachung.«
Nel kicherte. »Erzähl du mir was von Abmachungen«, sagte sie, bevor sie gehorsam einschlief.
Maître Longueteau hatte die Kanzlei von seinem Vater übernommen, und auch sein Großvater war hier schon Notar gewesen. Staubteilchen tanzten im fleckigen Sonnenlicht, das von sich verfärbenden Weinranken rund um das hohe Fenster gefiltert wurde. »Hier steckt die gesamte Geschichte von Nuits Saint Georges drin, die Akten reichen hundertfünfzig Jahre zurück«, erklärte der jüngste Spross stolz und zeigte auf die schweren Holzschränke, die zwei Wände seines Büros in Beschlag nahmen. Er prüfte Max’ Legitimation, hörte sich seine Erklärungen an und hielt Nels Hand ziemlich lange fest, als Max sie ihm vorstellte. »Tragen Sie auch eine Pistole?«
Nel hatte ihn sofort durchschaut, bedachte ihn mit einem lieben Lächeln und sagte zuckersüß: »Sie werden nie erraten, wo!«
Christian Longueteau grinste. Er sah aus wie eine untersetzte, jüngere Ausgabe von Robert Duvall, mit schütterem Haar, das bis zur Mitte seines Schädels zurückgewichen war, und mit Augen, die eine Mischung aus Integrität und einem Hang zur Korruption auszustrahlen schienen. »Es heißt ja immer, Franzosen sprächen keine Fremdsprachen«, sagte er mit einem herablassenden Lächeln, als Nel ihm ein Kompliment wegen seines guten Englisch machte. »Aber schon mein Vater sah, wie Weinhäuser und Immobilien in die Hände von Japanern und Briten übergingen, und hat mich für ein Jahr nach Amerika geschickt.« Mit gallischer Freimütigkeit flirtete er mit Nel, die, quasi als Zugeständnis an die Franzosen, ihre Sneakers gegen offene Schuhe eingetauscht hatte und die schwarze Uniform gegen einen meergrünen Rock und eine cremeweiße Bluse, die halb offen stand und den Blick auf einen spitzenbesetzten BH freigab. Christian wandte sich die ganze Zeit fast ausschließlich an sie. »Ich habe mir schon gedacht, dass Sie im Zusammenhang mit dem Nachlass des alten Raymond gekommen sind«, sagte er. »Gewiss haben Sie Verständnis dafür, dass ich das Vertrauensverhältnis zu meinen Mandanten respektieren muss. Ich kann Ihnen daher nicht viel erzählen, außer dass alles ordnungsgemäß abgelaufen ist.«
»Das ist ja wie im Märchen«, meinte Nel katzenfreundlich. »Alex Lafont wird als Baby ausgesetzt, und ein halbes Jahrhundert später lassen Sie ihn im Zusammenhang mit einer Erbschaft suchen. Gewiss können Sie uns weiterhelfen, wir wollen ja nur unsere Ermittlungen abschließen. Wer war Raymond Lafont?«
»Einer der größten Weinbauern im Umkreis. Er ist letztes Jahr an Silvester verstorben, an Krebs.« Der
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