Isabelle
Notar schwieg.
»Lebt seine Frau noch, ich meine, seine zweite Frau?«
»Laurence ist vor sechs Jahren gestorben.« Er seufzte. »Vielleicht haben ihn nach ihrem Tod seine Jugenderinnerungen wieder eingeholt, so könnte ich es mir vorstellen.«
»Meinen Sie, er führte mit Laurence eine glückliche Ehe?«
Christian schüttelte den Kopf. »Mein Vater hat ihn besser gekannt als ich, er hat es mir später erklärt. Seine Eltern haben offensichtlich großen Druck auf ihn ausgeübt, Raymond war ihr einziger Sohn. Laurence war fünf Jahre älter als er, aber sie erbte große Weinberge, die an den Besitz der Lafonts angrenzten. Ich weiß nicht, ob sie glücklich waren. Manchmal wendet sich bei diesen Zweckheiraten ja alles zum Guten, aber ich habe Raymond nie als glücklichen Menschen betrachtet.«
»Glauben Sie, dass wir mit den anderen Erben sprechen sollten?«, fragte Nel in einem Ton, als verzehre sie sich förmlich nach seinen Ratschlägen. Max hielt taktvoll den Mund.
»Es gibt nur einen, aber ich glaube nicht, dass Didier gerne darüber sprechen möchte«, antwortete Christian. Er zögerte wiederum einen kurzen Moment und sagte dann: »Das Testament war ein Schock für ihn. Er hat immer gedacht, er wäre der einzige Erbe.«
»Ist das Testament geändert worden?«
Der Notar nickte. »Notare fungieren auch manchmal als Beichtväter. Wir bekommen Dinge aus der Vergangenheit zu hören, alte Familiengeschichten … Kurz vor ihrem Tod werden die Menschen oft von Reue gepackt, als hätten sie Angst, sie würden direkt nach ihrem Ableben zur Verantwortung gezogen. Raymond rief mich drei Wochen vor seinem Tod zu sich ins Krankenhaus. Er hatte einen Entwurf für ein neues Testament ausgearbeitet, in dem er seinen Besitz zu gleichen Teilen Didier sowie zwei Kindern aus einer früheren Ehe mit einem niederländischen Mädchen vermachte.«
»Zwei Kindern?«, konnte Max sich nicht verkneifen zu fragen.
»Ja, ein Sohn und eine Tochter, deren Erbteile automatisch an ihre Kinder übergegangen wären, wenn es welche gegeben hätte, was jedoch nicht der Fall war, wie sich herausstellte. Ich wusste nichts von dieser ersten Ehe und Didier offensichtlich auch nicht. Raymond erklärte es ihm in einem Begleitbrief zum Testament. Er schrieb darin im Großen und Ganzen, dass er seiner ersten Frau großes Unrecht angetan habe.«
»Wollen Sie damit sagen, dass Raymond diese erste Ehe immer geheim gehalten hat, sogar vor seinem Sohn?«, fragte Nel in ungläubigem Ton.
Der Notar lächelte sie freundlich an. »Das meine ich mit alten Familiengeheimnissen. Mein Vater wusste davon, er hat im Nachhinein einen Ehevertrag aufgesetzt, auf Druck der Eltern hin. Die Heirat wurde als Jugendsünde betrachtet, als Fehltritt, und einfach unter den Teppich gekehrt.«
»Mir tut diese Frau richtig Leid«, sagte Nel. »Wie lange hat die Ehe gehalten?«
»Ungefähr drei Jahre. Mein Vater hat erzählt, dass die Lafonts in Panik gerieten, als Raymond mit zweiundzwanzig Jahren auf einmal verheiratet nach Hause kam, mit einem ausländischen Mädchen, das obendrein auch noch schwanger war, und ohne einen Vertrag oder etwas Ähnliches. Das haben die Eltern dann sofort geregelt, und ich könnte mir denken, dass sie alles darangesetzt haben, die Sache zu beenden. Nun ja, und dann hat er im letzten Moment versucht, noch etwas wieder gutzumachen.«
»War das Testament gültig?«
»Es war absolut rechtsgültig; eine Krankenschwester hat als Zeugin unterschrieben, und Raymond war vollkommen klar im Kopf und Herr seiner Sinne. Didier und seine Frau bezweifelten das natürlich, aber sie hatten keinerlei Handhabe. Ich will damit nichts Negatives sagen, Didier ist ein wichtiger Mandant.«
Nel rückte ihren Stuhl ein wenig näher an seinen Schreibtisch heran. Es war ein schweres Exemplar aus Eichenholz. Der Notar saß auf der anderen Seite, aber ihr zugewandt. Max hatte sich in den Lehnstuhl gegenüber gesetzt, mit weichen Kissen, in die er tief versank, sodass er sich praktisch außer Sicht halten konnte. »Didier muss sich ja zu Tode erschreckt haben«, sagte Nel unter ihren Wimpern hervor.
»Würden Sie sich vielleicht nicht erschrecken? Und das ist noch schwach ausgedrückt.« Der Notar seufzte. »Didier arbeitet sehr hart, das Gut ist sein Lebenswerk. Sein Vater war schon ausgeschieden, als er es übernahm, und Didier betrachtete es als sein Eigentum. Plötzlich erfährt er, dass es ihm nur zu einem Drittel gehört. Es war, als würde er vom Blitz
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