Isarbrodeln
Überdruss. Wir vergessen doch meistens völlig, dass unser Leben eigentlich ein Geschenk ist.«
»Außer wenn ein Freund oder Verwandter stirbt, Herr Dozent«, nahm Georg den Faden auf und stieß seinen rechten Zeigefinger in die Luft. »Oder wenn wir uns mal ganz bewusst die Hungernden in der Dritten Welt vor Augen führen, wie an Weihnachten. Da merken wir auf einmal wieder, wie wertvoll das alles ist, was wir hier haben. Stimmt’s?« Er blickte mit hochgezogenen Brauen, Zustimmung erwartend, in die Runde, während er, bereit für den nächsten Schluck, sein Glas an den Mund hob.
»Stimmt auffallend, Schorsch. Man könnte meinen, du hättest damals Philosophie und Religion fertig studiert.« Auch Max nahm sein Glas vom Tisch. Er und Georg hatten vier Semester lang gemeinsam Philosophie studiert. Bis ihnen das Ganze zu theoretisch wurde. Max hatte mit Musikspielen und seinem Sportstudium begonnen und Georg war in die mathematische Richtung gewechselt.
»Ja mei. Die EDV hat halt doch mehr Aussicht auf Geld versprochen. Wie recht ich damit hatte, weißt du selbst«, triumphierte er jetzt mit einem kleinen, stolzen Lächeln auf den Lippen.
Und wie Max das wusste. Vor zehn Jahren hatte Georg eine Softwarefirma gegründet und seitdem unglaublichen Erfolg damit. Er stellte ein Programm her, das im Internet lief und sich verkaufte wie warme Semmeln. Am Anfang hatte er noch ein winziges Zweizimmerbüro in Schwabing gehabt. Heute arbeiteten 120 Leute für ihn. In einem riesigen Großraumbüro mitten in der Stadt. Und 200 weitere waren weltweit für seine Produkte im Einsatz. Doch wer geglaubt hätte, dass der dünne Schlacks mit dem lichten, dunklen Haupthaar aufgrund seines finanziellen Höhenfluges arrogant und geizig geworden wäre, der täuschte sich. Wenn es zum Beispiel um neue Trikots oder Betriebsausflüge mit dem FC Kneipenluft ging, trug er immer den größten Teil der Kosten. Einfach so. Weil er Lust dazu hatte. Genauso, wie er etliche Hilfsprojekte in Afrika großzügig unterstützte. Egal, wie reich er wurde, Georg blieb immer derselbe, der er früher gewesen war. Und seine damaligen Freunde konnten sich auch heute noch ohne Wenn und Aber seine Freunde nennen.
»Logisch hattest du recht, Schorsch. Du bist der Reichste von uns, wie wir alle wissen. Mit Philosophie oder frommen Sprüchen hättest du das sicher nicht geschafft. Herrschaftszeiten, Männer, wir sind wirklich schon lange beisammen, was?« Max sah sich mit feuchten Augen im Raum um.
Die meisten von ihnen kannten sich seit der Uni. Manche hatten sogar gemeinsam Abitur gemacht, so wie Max, Georg und Josef. Und Franz natürlich. Der hätte eigentlich noch in ihrer Runde gefehlt. Aber der unsportliche, kettenrauchende Hauptkommissar war kein Mannschaftsmitglied des FC Kneipenluft. Vereinsmitglied ja. Das war schließlich Ehrensache. Aber kein Mannschaftsmitglied. Nicht mal als junger Mann. Höchstens ab und zu Zuschauer.
»Lasst uns noch mal auf unseren italienischen Torschützen anstoßen. Hoch lebe Giovanni! Er war der beste Stürmer, den wir je hatten. Wir werden die Meisterschaft dieses Jahr für ihn holen.« Josef hob sein Glas und alle Anwesenden prosteten sich Zustimmung murmelnd zu.
»Für … das Spiel am nächsten Samstag … besorge ich schwarze Armbinden. Was meint ihr?« Georg musste sich ein paar Mal räuspern, bevor er seinen Satz laut genug herausbrachte.
»Sehr gut, Schorsch. Superidee«, lobte Max. »Was meint ihr? Gehen wir drei noch auf einen Schluck zu ›Rosis Bierstuben‹ in die Lindwurmstraße? Die sperren hier doch gleich zu.« Er blickte Georg und Josef fragend über den Rand seines Glases hinweg an.
»Gerne, Max«, erwiderte Georg. »Rosi interessiert sicher auch, was mit Giovanni passiert ist. Außerdem kann ich jetzt sowieso noch nicht schlafen, nach der ganzen Sache.«
Josef nickte nur zustimmend. Die hochgezwirbelten Enden seines riesigen Schnauzbartes zitterten dabei wie zwei kleine Autoantennen im Fahrtwind.
9
Um halb eins betraten sie ›Rosis Bierstuben‹ durch den schweren Windfang aus Stoff. Wie immer um diese Zeit war das beliebte Nachtlokal nahezu bis auf den letzten Platz besetzt. Die blonde fesche Rosi im fast bodenlangen grünen Dirndl wäre aber nicht Rosi gewesen, wenn sie nicht trotzdem ein Plätzchen für drei ihrer liebsten Stammgäste frei gehabt hätte. Und so fanden sich die inzwischen reichlich angetrunkenen Hobbyfußballer kurze Zeit später an einem gemütlichen Ecktisch neben
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