Isau, Ralf
Hals.
Dessen Herz schien für einen Moment auszusetzen. Jetzt stirbst du. Oder du packst die Sache endlich richtig an. Seine Linke tastete erneut über den Tisch. Der Arm wurde immer länger. Dann stieß er endlich gegen den gesuchten Gegenstand: die Hutschachtel. Aber er bekam sie nicht richtig zu fassen. Er legte alle Kraft in eine letzte, explosionsartige Kraftanstrengung und bäumte sich gegen Gmorks Umklammerung auf. Die Hände des Gegners rutschten von seinem schweißnassen Hals ab, und tatsächlich kam er für einen Augenblick frei.
Karls Kopf flog herum. Er sah einen Tragegriff an der Seite der Hutschachtel und packte zu. Mit einem Ruck riss er sie vom Lux. Im Raum wurde es dunkel. Nur die gleißende Hand war noch zu sehen, aber sie verströmte kein Licht – sie schluckte es. Schon spürte er wieder die Pranken des Gegners auf seiner Brust. Sie drückten ihn auf den Tisch zurück und tasteten sich schnell zum Hals empor. Aber diesmal war Karl schneller. Er biss die Zähne zusammen, und seine Linke schloss sich um den Lux.
Der Schmerz war überwältigend. Für einen Moment glaubte Karl verbrennen zu müssen. Gleichzeitig stieg ein glühender Zorn in ihm auf, den er so heiß nie zuvor gespürt hatte – der Stein brachte seine Gefühle zum Kochen. Aber Karl ließ nicht los, sondern stieß mit geschlossenen Augen den weißen Stein in die Dunkelheit, dorthin, wo er das Gesicht seines Gegners vermutete. Der Lux prallte gegen ein Hindernis. Karl vernahm einen gellenden Schrei, der ihm fast die Trommelfelle zerriss. Augenblicklich löste sich Gmorks Griff. Karl ließ den Lux auf die Tischplatte kollern, rollte sich zur Seite und fiel zu Boden.
Seine Linke war taub, aber an seinem Gesicht, das auf den Dielen lag, und in der rechten Handfläche spürte er einige der Perlen, die er zuvor verschüttet hatte. Ich brauche die Hutschachtel! Irgendwo in einem anderen Winkel der undurchdringlichen Dunkelheit stöhnte Gmork. Anscheinend hatte ihm die Berührung mit seinem halben Herzen fast die Besinnung geraubt. Zumindest war Karl jetzt klar, warum er es lieber nicht selbst zusammenfügen wollte.
Noch war die Gefahr nicht vorüber. Karl tastete sich fieberhaft über den Boden. Wo war nur die Hutschachtel? Er hatte sie doch über sich hinweg in dieselbe Richtung geschleudert, in die er eben vom Tisch gerollt war.
Auf allen vieren kroch er ein Stückchen weiter über die Dielen, und da fand er sie. Sogleich hob er die Schachtel auf. Allmählich kehrte Leben in seine linke Handfläche zurück. Nicht unbedingt angenehm, denn dem Gefühl nach steckten tausend Nadeln darin. Vorsichtig, um nicht von irgendwelchen Perlen zu Fall gebracht zu werden, stand er auf und bewegte sich schlurfend zum Tisch zurück. Durch den Karton hindurchspähend, sah er die weiße Hand. Er stülpte die Hutschachtel darüber. Und das Zimmer wurde wieder hell.
Gmork lag an der Wand neben der Tür, die zur Rumpelkammer führte. An seinem Hals prangte ein schwarzer Fleck. Er schien benommen, stöhnte immer noch, kam aber allmählich wieder zu sich. Vom Brandmal des Werwolfs beunruhigt, warf Karl einen Blick auf seine eigene Hand. Ihre Innenfläche war scheckig: Hier schwarz wie Ruß, dort immer noch schneeweiß, aber da, wo Lux und Nox gemeinsam auf sie eingewirkt hatten, sah die Haut rosig aus, wie neu. Er entsann sich der Worte Elsters: Eine kurze Berührung, na gut, aber man braucht ein reines Herz, um den Nox gefahrlos über eine weitere Strecke zu tragen. Offensichtlich traf Ähnliches auch auf die weiße Hand zu, doch wenn die zerstörerischen Kräfte beider zusammentrafen, dann hoben sie sich gegenseitig auf. Trotz der Schmerzen legte Karl seine Linke auf die Hutschachtel, um im Notfall sofort wieder an den Lux zu kommen. Er hatte Zeit gewonnen, nicht mehr. Gmork war ihm überlegen, und er erholte sich offenbar schnell. Karl hatte von Anfang an gewusst, dass es in dieser Begegnung keine friedliche Übereinkunft geben würde. Entweder der Werwolf würde ihn besiegen oder umgekehrt.
Vom Boden her starrte ihn Gmork böse aus glühenden gelbgrünen Augen an. Eine Weile lag er nur schwer atmend da, dann ächzte er: »Wie wäre es mit einem Waffenstillstand?«
Er will mich in Sicherheit wiegen. »Und wie soll der aussehen?«
»Du fügst für mich beide steinernen Hände zusammen. Dafür schenke ich dir dein Leben.«
Karl blieb unnachgiebig. »Es ist dein Herz, Gmork. Du wirst es selbst tun müssen. Wenn du beide Hälften gleichzeitig ergreifst
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