Isau, Ralf
noch kein Nichts.«
»Das ist wohl wahr«, pflichtete ihm Kumulus bei.
»Und wenn man das Buch ... oder das Licht, aus dem es besteht, irgendwie bannen könnte?«, grübelte Karl laut. Er machte eine raumgreifende Geste. »So wie die vielen Imaginárien hier in der Sammlung. Sie sind fixiert worden. Man kann sie zwar ansehen, sie bestaunen, aber irgendwie – bitte verzeiht, Hoheit – erfüllen sie nicht mehr ihren Zweck: Die Schneeflocke macht die Landschaft nicht weiß, das Gefühl beim ersten Kuss der Liebsten lässt das Herz nicht mehr pochen ...«
Qutopía seufzte leise, und Karl verfiel errötend in Schweigen.
»Da ist was dran«, sagte Herr Trutz und wirkte mit einem Mal sehr nachdenklich.
Kumulus nickte bedächtig. »Sie haben Recht. Mir fehlen die Möglichkeiten, Ihre Hypothese empirisch zu untermauern, Koreander, aber abgesehen von der völligen Vernichtung könnte das Bannen eines Buches auf irgendein Ding das Nichts hervorrufen, vorausgesetzt, dieses Ding würde anschließend aus Phantásien herausgeschafft.«
Karls Gedankenspiel schien den Meisterbibliothekar nicht mehr loszulassen, weshalb er den einmal aufgenommenen Faden weiterspann. »Angenommen, in der Äußeren Welt gibt es tatsächlich Menschen, deren Passion das Sammeln phantásischer Bücher ist, worauf könnten sie deren Licht Eurer Meinung nach bannen, Majestät?«
»Das ist schwer zu sagen. Ich würde etwas Beständiges wählen, möglicherweise einen Diamanten«, begann der König grüblerisch, begeisterte sich dann aber schnell für seine scharfsinnigen Überlegungen. »Geeigneter wären allerdings Preziosen, deren Wesen besser zu dem der Bücher passt. Wie sagt doch das Sprichwort? ›Ein Beutel mit Weisheit ist mehr wert als einer voller Perlen.‹ Ja, wenn ich's mir recht überlege, ist die Perle das einzige Medium, das sich geradezu organisch mit schöpferischen Gedanken verbinden ließe. Sie gilt seit alters als Sitz der Weisheit, aber auch als Symbol großer Kostbarkeit. Was für eine unwiderstehliche Verlockung müsste doch von der kühlen Schönheit einer Perle ausgehen, in der die Weisheit eines ganzen Buches wohnt? Es gibt da eine ganz besondere Sorte, groß und strahlend weiß, die von den Eismollusken im Harschmeer ...« Kumulus verstummte, weil sich der junge Mann neben ihm plötzlich sehr auffällig benahm.
Karls Hände hatten sich ruckhaft über die rechte Hosentasche gelegt, als gelte es, ein darin gefangenes Tier an der Flucht zu hindern. Gleichzeitig wankte er wie ein Betrunkener. Als er sich der Blicke bewusst wurde, die ihn teils argwöhnisch, teils besorgt musterten, zog er den Kopf ein, als fürchte er Schläge.
»Sie sind so blass wie ein Weißkäse, junger Freund. Ist Ihnen nicht gut?«, erkundigte sich Herr Trutz.
»Ehrlich gesagt, nein.«
»Ihnen ist schwindlig, nicht wahr? Sollen wir einen Stuhl holen?«
»Es geht schon. Mein verletztes Fußgelenk ... Das lange Stehen macht ihm zu schaffen.«
Qutopía ergriff den Arm des Schwankenden, um ihn zu stützen. »So wie Sie aussehen, plagt Sie mehr als nur das Bein.«
Karls Gewissen rührte sich. Er fühlte sich überführt. Alle schienen ihn durchschaut zu haben. Zuerst der König mit seiner Äußerung über die »unwiderstehliche Verlockung« der Perlen und nun auch das Drachenmädchen. Zerknirscht holte er sein Taschentuch hervor und faltete es behutsam auseinander. Als die immer noch kalte schwarze Perle, die er in der Phantásischen Bibliothek eingesteckt hatte, zum Vorschein kam, brummte er nur: »Beinahe hätte ich sie vergessen.«
Einmütig beugten sich drei Gesichter über die Perle, die Reaktionen waren indessen reihum verschieden.
Qutopía seufzte abermals. »Sie ist wunderschön!«
Herr Trutz runzelte die Stirn. »Vergessen? Wo haben Sie die her?«
Die Augen des Königs schienen ihm aus dem Kopf quellen zu wollen. »Wie groß sie ist! Wäre sie nicht schwarz, würde ich behaupten, sie stammt von einer Eismolluske. Steht das werte Stück zum Verkauf?«
»Nein«, erwiderte Karl kühl. Am liebsten hätte er seine Perle sofort wieder weggesteckt.
»Wieso nicht? Ist sie irgendein Andenken an ein Mädchen? Eine Wertanlage? Ein lieb gewordener Fingerschmeichler?« Kumulus rieb sich die Hände.
»Eher nicht. Sie war eiskalt, als ich sie in der Bibliothek gefunden habe.«
»Davon hatten Sie gar nichts erwähnt«, kam Herr Trutz dem König zuvor.
Karl zuckte die Schultern. »Normalerweise trage ich keine Taschentücher bei mir, aber als ich mich
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