Isenhart
an der Gweg abrutschte und zu Boden plumpste. Gweg schlug so panisch mit dem Flügeln, dass der rechte, soeben gebrochene Flügel zu einer steten Kreisbewegung führte, die den Raben keinen Daumenbreit vom Fleck brachte.
Hieronymus hob den Fuß, um dem Vogel den Kopf zu zertreten.
»Nicht!«, kreischte Marie entsetzt. Ihr Ausruf verursachte exakt jenen Moment der Verzögerung, der den Geistlichen kurz verharren ließ und den Isenhart dazu nutzte, sich gegen ihn zu werfen, sodass Hieronymus zu Boden stürzte. Isenhart war es in dem Augenblick egal, ob er sich dabei etwas brach. Gwegs aufgeregte Flügelschläge und sein Unvermögen, auf die Beine zu kommen, die hellen Krächzlaute, die er ausstieß und die sofort Dolph und Unnaba auf den Plan riefen, fuhren Isenhart in die Glieder.
Er hockte sich über den Kolkraben, dessen Bewegungen zu nichts führten. Behutsam streckte Isenhart die Hände nach dem Vogel aus, der – wegen Hieronymus oder aufgrund unsäglicher Schmerzen – jedes Vertrauen in ihn verloren zu haben schien und seine absurd anmutenden Flugversuche nur umso intensiver fortsetzte, um auch vor ihm zu fliehen.
So sanft es eben ging, legte er dem Kolkraben den verletzten Flügel an den Körper, bevor er ihn hochhob. Gweg erstarrte. Keine Erschlaffung, sondern Spannung. Reglos bis auf den Kopf, der hin und her ruckte und Isenhart von allen Seiten zu betrachtenschien. Ganz so, als habe er sich schwerwiegend in den Menschen getäuscht, als habe Isenhart, der dieser Spezies angehörte, zu viel unverdientes Vertrauen genossen – was nun einer genaueren Einschätzung bedurfte.
»Was hast du getan?«, herrschte Isenhart Hieronymus an, der zu seinen Füßen lag und sich das linke Handgelenk rieb, das er sich beim Sturz verstaucht hatte. Der Geistliche warf ihm den Blick eines verletzten Kindes zu. Hieronymus war nicht in der Lage, Isenharts Worten einen Sinn zuzuordnen.
Was dieser nun auch begriff, weshalb er hinüber zum Kanal ging. Dolph und Unnaba folgten ihm in sicherem Abstand, ein Abstand, der sich soeben verdoppelt hatte. Isenhart war kein Experte, was gebrochene Flügel betraf, aber immerhin war ihm das Schienen von Gwegs durch einen Katzenangriff verletzten Flügel einst gelungen. Diese rohe Gewalt jedoch hatte zu einer schlimmen Verletzung geführt. Dort, wo der Flügel in den Körper mündete, war er aus ebendiesem zu einem Drittel herausgerissen worden. Isenhart entdeckte die Stelle aus von Blut durchtränkten Federn sofort.
Und auch, wenn er im Geist schon neuartige Arten des Schienens entwarf, wusste er es doch. Er wusste es schon, als Hieronymus den Raben gegen die Mauer geschleudert hatte, er wusste es, als Gweg nicht in der Lage gewesen war, davonzuflattern und sich in die Luft zu flüchten. Wusste, dass diese Geschichte hier zu enden hatte, die seinem Traum vom Fliegen eine erste Grundlage vermittelt und die zu einer bemerkenswerten Annäherung zwischen Mensch und Raben geführt hatte.
Am meisten machte ihm die Angst zu schaffen, mit der Gweg ihn beäugte. So sanft es ihm möglich war, fuhr Isenhart dem tödlich verletzten Vogel mit dem Zeigefinger zwischen den Augen entlang. Sanft und wieder und wieder und nicht müde werdend. Als Sophia mit Lilian auf dem Arm auftauchte, als ihre Augen stumm die Frage stellten und er ein Kopfschütteln andeutete, war alles gesagt. Die beiden folgten ihm den Kanal entlang zum Rhein, in dem sich die Abendsonne spiegelte.
»Gweg«, sagte Lilian und reckte ihre kleinen Finger.
»Gweg ist müde«, sagte Sophia, und die Brüchigkeit in ihrerStimme zerkrampfte Isenhart das Herz. Er hätte weitere drei Finger gegeben, um den Raben mit Worten beruhigen zu können. Ihm sagen zu können, dass es letztlich nicht in Hieronymus’ Absicht gelegen hatte, die Verletzung aber so schwer schien – hast du starke Schmerzen, Gweg? –, dass es keinen glücklichen Ausgang mehr geben würde. Um alles in der Welt hätte er ihm die Furcht nehmen wollen, ihm sagen mögen, dass er vor ihm keine Angst zu empfinden bräuchte. Das nicht tun zu können, sich für diese simple Verständigung unfähig zu finden, führte ihm seine eigene Nichtigkeit vor Augen, gegen die er – nur auf den ersten Blick ein Widerspruch – bis zum letzten Atemzug aufbegehren würde.
Isenhart hatte das Ufer fast erreicht, als er die Schritte hinter sich vernahm. Eine schnelle Trittfolge, die Kieselsteine knirschten unter dem Gewicht – Konrad. In dessen Miene las er echte Bestürzung.
»Gweg,
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