Isenhart
gewusst. Gewusst, wie leicht durchschaubar ihre Erklärungen und Beteuerungen gewesen waren.
Pilze sammeln – sie waren sogar so sorglos gewesen, Pilze zu sammeln, als es gar keine mehr gab. Er hob den Blick.
»Anna besitzt kein Jungfernhäutchen mehr, und da ich keinen Mannessaft finde, muss ich davon ausgehen, dass sie es vorher verloren hat. Anna hat vor ihrem Tod das Lager mit jemandem geteilt.«
Isenhart bemerkte, wie sich eine sanfte Wärme seines Gesichts bemächtigte. »Er kann das Jungfernhäutchen zerstört haben, ohne etwas von seinem …« Er ließ es unausgesprochen.
»Du meinst, er hat ihr Häutchen zerstört und sich in den Schnee erleichtert? Warum sollte er? Schwängern konnte er sie wohl kaum noch.«
Isenhart nahm fast schmerzlich wahr, wie Ober- und Unterkiefer sich trafen und aufeinander zu mahlen begannen.
Walther wich ihm immer noch nicht von der Seite. »Also?«, fragte er, was im Kern keine Frage war, sondern eine Aufforderung, sich endlich zu äußern und von Ascisberg Gewissheit zu verschaffen. »Du hast mit Anna das Lager geteilt.«
Isenhart spürte einen Kloß im Hals. Es waren einzigartige Momente zwischen Anna und ihm gewesen, am Ende waren sie so vertraut, dass sie ihre vor Lust verzerrten Mienen nicht mehr voreinander verbargen. Sie ließen sich gehen, sich fallen und wurden vom anderen aufgefangen. Diese Verschmelzung des Vertrauens erschien ihm noch heiliger als ihr körperliches Einssein. Zu heilig, um es nun vor jemandem auszubreiten.
Walther vom Ascisberg spürte das Zögern seines Schülers. Er kannte den Jungen gut, möglicherweise besser als jeder andere. Allein Isenharts Haltung, die hochgezogenen Schultern, die Lippen, die nur noch eine Linie bildeten, wo sie doch sinnliche Wellen werfen konnten, der starre Blick – all das signalisierte ihm die Erfolglosigkeit seines Versuches, Isenhart zum Reden zu bringen.
Er atmete zweimal tief durch und deutete dann ein Nicken an. »Schön«, sagte er, »der Mörder hat sie nicht wegen der körperlichen Freuden begehrt, er hat Anna nicht geschändet. Alles, was er wollte, war ihr Herz.«
»Aber wozu?«, fragte Isenhart.
Walther von Ascisberg trat zurück, warf Annas Leiche einen langen Blick zu und richtete die Augen erneut auf ihn. »Ja«, sagte er leise, »das ist die entscheidende Frage: Wozu? « Wenn er sprach, hinterließ sein Atem kleine Wölkchen in der klirrenden Winterluft. »Habt ihr mit jemandem gesprochen, mit einem Fremden?«
»Nein.«
»Bist du dir ganz sicher? «
Isenhart überlegte kurz. Dann nickte er. Anna und er hatten mit niemandem gesprochen. Wenn, dann war sie ihrem Mörder zuvor alleine begegnet. Sie beide hatten jeden Hinweis auf ihre verbotenen Treffen vermieden. Wären sie ans Licht gekommen, es hätte das sofortige Ende ihrer heimlichen Feste bedeutet und für Isenhart eine drakonische Strafe nach sich gezogen.
Mein Vater könnte dich dafür töten lassen.
Annas von Sorge getragenen Worte hallten in seinem Kopf wider. Sie hatte es mehr als einmal gesagt, gewispert in ihrer Kammer, und er hatte ihr ein beherztes Lächeln geschenkt, das sagte: Ich weiß um den Preis.
Trotz aller Vorsicht war seinem Bruder Henrick ihre Verbindung nicht verborgen geblieben. Und von Ascisberg waren ihre Ausflüge unter dem Deckmantel des Pilzesammelns berechtigterweise suspekt erschienen.
Beide hatten sie gedeckt. Henrick, weil er Hand an sich legte, während er sie heimlich bei ihrem Liebesspiel beobachtete, und Walther von Ascisberg, weil – ja, warum eigentlich?
»Warum habt Ihr Sigimund von Laurin nicht von uns erzählt?«
Eine Frage, mit der Walther von Ascisberg zweifelsohne nicht gerechnet hatte. Nicht jetzt, nicht hier. Er zog den Kopf unmerklich ein, wandte den Blick ab. »Wem wäre damit gedient gewesen?«, erwiderte er, und Isenhart fand keine Antwort auf diese Gegenfrage.
Aus der Kammer nebenan vernahmen sie ein Schluchzen, das in ein Wimmern überging. Marie. Jemand musste es ihr erzählt haben. Seit Konrad sie aus Regensburg mitgebracht hatte, kümmerte sie sich um Anna und Sophia. Sorgte für Ordnung in deren Kammern, bürstete ihr Haar und wusch ihre Kleider. All das klaglos, denn über ihre Lippen gelangte kein Wort.
Es war das erste Mal, dass Isenhart und Walther ihre Stimme überhaupt hörten.
Konrad kümmerte sich um sie, wann immer seine Zeit es ihm erlaubte. Er unternahm Spaziergänge mit ihr im Wald. Isenhart wusste genau, wie verhasst diese eintönigen Märsche dem Freund waren,
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