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Isolation

Isolation

Titel: Isolation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Wells
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Dreifache meines Eigengewichts. Gestern Abend habe ich bei fünf Versuchen fünfmal auf dreißig Schritt Entfernung ein bewegliches Ziel mit dem Messer ins Schwarze getroffen. Ich glaube, ich weiß meinen Körper recht gut einzusetzen.«
    »Das meine ich nicht«, antwortete Latimer. »Ich rede von Verführung.« Er blieb vor ihr stehen und strich mit dem Finger leicht über den Stoff, der ihren Unterkörper bedeckte. »Lassen Sie das Handtuch fallen!«
    Den Begriff Verführung hatte sie schon einmal gehört, und sie hatte eine etwas unklare Vorstellung, was damit gemeint war: mit den Gefühlen eines Menschen spielen und dessen Liebe und Begehren ausnutzen. Es war eine Art von Verhör- und Zwangstechnik. Eine der anderen Thetas hatte über die Ausbildung in Verführung gesprochen, doch diesen Teil hatte eine spezielle Ausbilderin und nicht ihr Trainer übernommen.
    Hier stimmte etwas nicht.
    Sie wich einen Schritt zurück. »Nein, Sir.« Selbst in dieser Situation, in der sie nicht verstand, was vor sich ging, und seine Befehle so offenkundig falsch waren, empfand sie tiefe Schuldgefühle, weil sie ihm nicht gehorchte.
    Sie sah die Ohrfeige kommen, bevor die Hand sie traf. Seine Schulter spannte sich, der Arm holte weit zu einem kräftigen Schlag aus, vor Anstrengung schnitt er sogar eine Grimasse. Sie sah den Schlag kommen und hätte sich ducken können, doch sie war zu gut ausgebildet. Man gehorchte den Vorgesetzten und nahm die Strafen hin. Die Ohrfeige traf sie mit einem lauten Klatschen, ihr Kopf flog zur Seite. Sie war sicher, dass sie eine hässliche rote Schwellung auf der Wange hatte, die jedoch rasch wieder abklingen würde. Sie folgte der Drehung mit der Wirbelsäule und fing den Schlag ab, ohne zu straucheln oder zu stürzen. Dann wandte sie sich wieder zu ihm um.
    »Du sagst nicht Nein zu mir!«, tobte er. »Ich bin dein vorgesetzter Offizier. Du tust, was ich sage, sobald ich es sage, und du hast nicht das Recht, es nicht zu mögen, weil du eine Maschine bist. Du bist eine Puppe – meine Puppe –, und ich spiele mit dir, wie immer ich will. Jetzt lass das Handtuch fallen!« Er griff nach ihr, krümmte die Finger wie Klauen, und Heron schätzte in Sekundenbruchteilen die Situation ein. Alles, was er gesagt hatte, entsprach der Wahrheit. Er befahl, sie gehorchte. Er deutete auf etwas, und sie folgte der Anweisung. Sie war ein künstliches Wesen. Keine Person, sondern ein Produkt, und jede Entscheidung, die sie je getroffen hatte, ging letztlich auf ihn oder jemanden wie ihn zurück. Ihr Leben gehörte ihm, so war es schon immer gewesen.
    Allerdings gefiel ihr nicht, wie er es benutzte.
    Heron wich zurück, wandte sich zur Seite, lenkte Latimers Hand ab, die er nach ihr ausstreckte, und verdrehte ihm den Arm. Er verlor das Gleichgewicht, schwankte heftig, rutschte auf dem nassen Boden aus und stürzte. Mit dem Fuß angelte sie einen Metallhocker heran und brachte ihn in die richtige Stellung unter seinem Nacken. Er prallte mit voller Wucht darauf und brach sich mit einem leisen Knacken das Genick.
    Anschließend sah sie sich in der Dusche um, betrachtete den Toten und sich selbst. Sie zerzauste sich das Haar und kniff sich in die Wangen, bis sie stark gerötet waren. Die Schwellung von der Ohrfeige klang bereits ab. Für das unglaublich wirkungsvolle Schadensbekämpfungssystem eines Partial-Körpers stellte dies kein Problem dar. Zuletzt nahm sie die Flasche, lief vorsichtig über den nassen Boden und eilte durch die Umkleide in den Eingangsbereich. Dort ließ sie die Flasche in einen halb vollen Mülleimer fallen. Dann riss sie die Flurtür auf und rief um Hilfe.
    »Kommt her, helft mir, schnell! Mein Trainer ist in der Dusche ausgerutscht! Holt sofort einen Arzt!«
    Es war spät, aber im Ausbildungskomplex war praktisch rund um die Uhr irgendjemand auf den Beinen, und bald darauf war der Flur voller Neugieriger und Sanitäter. Heron kehrte in die Dusche zurück und beobachtete, wie Latimers Kleidung das Wasser vom Boden aufsaugte. Die Sanitäter machten sich sofort an die Arbeit, konnten aber nichts mehr ausrichten.
    Dann werde ich wohl morgen einen neuen Trainer bekommen, dachte sie. Ich befolge seine Anweisungen und tue alles, was er verlangt, und werde eine brave kleine Soldatin sein.
    Aber sie haben die Absicht, mich zu benutzen, und nicht, mich zu beschützen. Von jetzt an beschütze ich mich selbst.

Zuoquan, Provinz Shanxi, China
    9.   Juni 2060
    Das Büro der Generäle befand sich im

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