Isolation
gesprochen, der auf dem Dach saß und das Feuerwerk anheulte. Sie hatten sich daran erinnert, wie der Drache einmal im Regen zusammengebrochen war. Das Papier war aufgeweicht, und der Umzug hatte eine halbe Ewigkeit lang warten müssen. Seit diesem Tag trug Li Gongs ältester Sohn unwiderruflich den Ehrentitel Herr des Schlamms . Heron prägte sich jede einzelne Geschichte ein, und während sie von Gruppe zu Gruppe schlenderte, wurde sie zu einer von ihnen und verhielt sich schließlich wie eine Frau, die in Zuoquan zur Welt gekommen war. Viele Gefangene behaupteten sogar, sie schon als Kind gekannt zu haben.
Es waren stolze Menschen, die Widrigkeiten gelassen hinnahmen, in den Beschwerlichkeiten der Gefangenschaft stark blieben und erbittert um ihre Freiheit kämpften. Sie bewunderte diese Menschen und war in gewisser Weise sogar stolz, zumindest so tun zu können, als sei sie eine von ihnen. Sie half den einen, ihre Fluchtversuche zu planen, belauschte die anderen und meldete alle ihren Vorgesetzten. Für die Gefangenen wie für die Wächter war sie eine heimliche Heldin.
»Es wird Zeit, eine Botschaft zu schicken«, erklärte Vincent. Er war ihr neuer Ausbilder und einer der Leiter des gesamten Ausbildungslagers. Sie hatte, wie sie es alle paar Tage tat, leidenschaftlichen Widerstand geleistet, und nun nutzte Vincent ihre angebliche Einzelhaft, um sie zu befragen. »Wer sind die Rädelsführer?«
»Li Gong ist der Älteste«, berichtete Heron. »Er besitzt aufgrund seines Alters in ihrer Kultur großen Einfluss. Die Menschen tun, was er sagt, aber er redet nicht viel. Aktiver, aber weniger wichtig ist dieser junge Mann.« Sie tippte auf ein Foto im Hauptbuch des Gefängnisses. »Hsu Yan. Er will einen Ausbruch wagen und lehnt die Art und Weise ab, wie Huan Do es angeht. Do und dessen Frau Lan sind wahrscheinlich die größten Anführer im Lager.«
»Definieren Sie die größten! «, forderte Vincent sie auf.
»Die mit den meisten Anhängern«, antwortete Heron. »Die mit dem größten Einfluss auf Gefangene und Wächter. Diejenigen, die höchstwahrscheinlich einen erfolgreichen Fluchtplan entwerfen und eine Gruppe bilden können, die ihn auszuführen vermag.«
»Also sind sie die Wichtigsten«, sagte Vincent. »Die Zahnräder, die das ganze Uhrwerk in Gang setzen.«
Heron nickte. »In gewisser Weise, ja.« Sie blickte auf. »Welche Botschaft soll ich ihm schicken?«
»Er ist nicht der Empfänger«, erläuterte Vincent. »Er ist die Botschaft. Wir benutzen ihn, um eine Botschaft an das gesamte Lager zu schicken.«
»Sie wollen ihn töten«, sagte Heron.
»Nein«, widersprach Vincent. » Sie werden ihn töten.«
Der Plan war denkbar einfach. Gewöhnlich brachte eine solche Botschaft – eine öffentliche Hinrichtung, damit der Rest des Lagers kuschte – Unruhe und Gefahren mit sich, aber Vincent wollte, dass es lautlos und verdeckt geschah. Wenn Huan Do in aller Öffentlichkeit starb, lernten die Gefangenen die Wächter zu fürchten, aber die fürchteten sie sowieso schon. Wenn Huan Do aber im Schatten starb, während er sich im Kreis seiner Freunde sicher wähnte, gab es für die Gefangenen kein Versteck mehr. Ihr Widerstand würde sich in Wohlgefallen auflösen. Heron verbarg ein Messer in ihrem Gefängnisoverall und kehrte ins Lager zurück, als ihre Strafe beendet war.
Für Aufgaben wie diese war sie monatelang ausgebildet worden. Das Ziel identifizieren, infiltrieren, zuschlagen. Hinein und hinaus. Von nun an betrachtete sie das Gefangenenlager mit neuen Augen, prägte sich jeden Wachturm und jede Unterkunft genau ein und befand, dass sich diese Aufgabe sogar ohne Hilfe der Wachen erledigen ließ. Sie kehrte in die Unterkunft zurück, klagte mit ihren Zellengenossinnen über die ungerechte Gefangenschaft und verneigte sich beim Abendessen vor den richtigen Leuten, um ihnen ihre Ehrerbietung zu zeigen und im Gegenzug das in sie gesetzte Vertrauen zu vertiefen. Hsu Yuan informierte sie über die neuesten Losungsworte, und Li Gong dankte ihr persönlich, weil sie mit ihrem Widerstand ein leuchtendes Vorbild abgegeben hatte. Heron fiel ein, dass sie eigentlich sich selbst hätte auf die Liste der Anführer setzen müssen. Sie war als Rebellin, Agitatorin und Planerin bekannt. Das Lager blickte zu ihr auf. Wenn sich herumsprach, dass ausgerechnet sie Hao Huan Do getötet hatte, wären die Insassen am Boden zerstört.
Um 21.00 Uhr löschten die Wächter das Licht und stellten die Stromversorgung der
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