Istanbul: Ein historischer Stadtführer
ran.
Nicht alle Rillen der alten Schellackplatte haben die Zeiten unbeschädigt überstanden, aber man versteht wenigstens, dass der schmachtende Herr zum Gegenangriff übergeht: Sie nennt ihn ungerührt Affe, aufdringlicher Schwätzer, Rabe, was bei ihm jeweils nicht mehr als ein blasiertes «ha» auslöst. Auch sein Versprechen, ihr einen Diamantring an den Finger zu stecken und ein Smaragdcollier um den Hals zu legen, fruchtet nichts:
Frau: Los verschwinde, alter Schwindler, Jammerlappen, der du bist,
Keine fünf
Para
sind in deinen Taschen, armer Teufel du!
Trotz ihrer heftigen Abwehr ergibt sich die Frau am Ende des Duetts dem Werben des Jünglings.
Hâlid Ziyâ (Uşaklıgil, 1868–1945), der wichtigste türkische Romancier der Jahrhundertwende, war schon als kleiner Junge im Istanbul der 1870er Jahre dem
Kanto
völlig ausgeliefert. Über seine
Kantomania
schrieb er viel später:
Gäbe es eine Abteilung der Stadtverwaltung, die ähnlich wie die Behörde für den allgemeinen Gesundheitsschutz Maßnahmen für die Bewahrung des guten Geschmacks ergreifen müsste, würde es ganz zweifellos eine ihrer ersten Aufgaben sein, diesen lächerlichen, als Kunst bezeichneten, ja grauenhaften Abfall auf Mistkarren und Mistkähne zu laden und ins Marmarameer zu kippen. Der
Kanto
! … Ich bin ihm seit sechzig Jahren nicht nur verfallen, ich bin krank nach ihm. Ich war ja noch ein winziges Kind, als man uns an den Bayramtagen einem Mann anvertraute, der in der Familie die Rolle des «Prinzenerziehers» einnahm. Er scharte uns winzige Knaben um sich und brachte uns, als gäbe es keine anderen Gegenden, um sich zu amüsieren, nach Galata, nach Doğruyol zum
Alcazar d’Amérique
, an einen Ort, der so miserabel ist wie sein Name pompös klingt, oder an einen anderen Ort namens Afrika, vielleicht weil er selbst Amerikaner war.
Kantos
habe ich zum ersten Mal dort gehört. Ich muss gestehen, dass ich zu den vom
Kanto
Besessenen gehörte, die damals diese schmuddeligen Hallen füllten. Darüber hinaus muss ich gestehen, dass ich unter den polnischen Mädchen, die eine Instrumentengruppe bildeten, eine kleine Violinistin, nicht größer als ich, erblickte, bei der ich mir überlegte, ob ich mich ihr an einem abgelegenen Ort nähern und mein Seidentüchlein für Feiertage überreichen sollte …
Theater als moralische Anstalt
Am Anfang der neuosmanischen Theatergeschichte steht eine anspruchslose kleine Komödie von İbrâhîm Şinâsî (1824?–1871). Der im Tophane-Viertel aufgewachsene Dichter Şinâsî zählt mit Nâmık Kemâl und Ziyâ Pascha zum Dreigestirn der Tanzîmât-Literatur. Als sehr junger Mann ging er 1849 zum Studium nach Paris, um sich den Finanzwissenschaften zu widmen. Nach seiner Rückkehr nach Istanbul (vermutlich 1854) betätigte er sich vor allem als Journalist. Nicht lange nach einem zweiten ausgedehnten Parisaufenthalt starb er in Istanbul. Er wurde auf dem Friedhof von Ayaspaşa (unterhalb des heutigen Taksim-Platzes bzw. des İnönü-Boulevards) beigesetzt. Als man den Friedhof überbaute (u.a. durch das Gebäude der deutschen Botschaft), ging der Grabstein verloren.Şinâsîs bleibende Bedeutung liegt in seiner Kunst, die osmanische Prosa behutsam reformiert zu haben. Sein 1860 geschriebenes Stückchen «Die Dichterheirat» war zur Aufführung im Theater des Dolmabahçe-Serails bestimmt, konnte aber erst 1908 (in Saloniki) uraufgeführt werden.
Die «Heirat des Dichters» von Şinâsî ist ein «Lustspiel in einem Aufzuge» und so kurz, dass es in Hermann Vámbérys Übersetzung weniger als zehn Seiten einnimmt. Der ungarische Turkologe hat den Text, den er als «schwaches Erstlingswerk» einstuft, dennoch ins Deutsche übersetzt, veranschaulicht er doch «heimatliche Sitten viel besser als die umständlichste Schilderung». Şinâsî behandelt das Thema «arrangierte Ehe». Der Held ist ein armer Poet namens Müştâk Bey. Er hat einen Ehevertrag unterzeichnet, um die junge, gute und schöne Kumru Hanım («Fräulein Turteltäubchen») nach Hause zu führen. Da sie eine ältere «krähenförmige» Schwester namens Sâkine («Die Sitzengebliebene») hat, die außer einem entstellenden Buckel nichts vorweisen kann, ahnt man schon im ersten Auftritt, dass nicht alles nach Plan verlaufen wird. Vorläufig freut sich Müştâk allerdings noch:
Endlich kommt mein Täubchen in den Käfig. O, wenn ich nur schon unter ihrem Fittiche hausen könnte. – Das Menschengeschlecht hat ein Futter, das man
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