Istanbul: Ein historischer Stadtführer
Familiengröße von geschätzten fünf Personen die Einwohner von Istanbul und Galata zusammenzählt, kommt man auf gut 80.000 Personen, wobei die steuerlich befreite Oberschicht und das Militär nicht berücksichtigt wurden.Demnach standen 9486 muslimischen Haushalten 6338 nichtmuslimische gegenüber. Die Aufstellung zeigt auch, dass sich Istanbul schon in den letzten Lebensjahren des Eroberers vom Dasein einer menschenleeren «Geisterstadt» entfernt hatte. Am Vorabend der Eroberung von 1453 hatten sich nicht mehr als 40.000 oder 50.000 Bewohner in Konstantinopel aufgehalten. Es sollte allerdings noch einige Jahrzehnte dauern, bis sich das schon unter Theodosius II. erweiterte Stadtgebiet auffüllte.
Ein Register aus der Zeit zwischen 1520 und 1535 belegt das bis dahin eingetretene Bevölkerungswachstum auf 79.997 Haushalte, das sind wohl 400.000 Menschen. Die Muslime waren also zu Beginn des süleymanischen Zeitalters schon in der Mehrheit (58 %), obwohl Christen (32 %) und Juden (10 %) einen unübersehbaren Anteil bildeten.
Im 17. Jahrhundert war Istanbul mit angenommenen 700.000 bis 800.000 Einwohnern die führende Stadt Europas und des Orients. Schon damals wurden erste Repatriierungen von Landflüchtigen bekannt. Murâd IV. (1623–1640) behauptete nach seiner Bekämpfung von Rebellen, Anatolien wieder sicherer gemacht zu haben. Die landflüchtigen Bauern verringerten die Steuereinnahmen der Zentrale. Entsprechend kam es verstärkt zur Rückführung von Immigranten. Im 18. Jahrhundert sind periodische Razzien auf Menschen ohne Lebensunterhalt bekannt.
1885 und 1907 fanden die ersten Bevölkerungszählungen statt, die nicht ausschließlich der Erfassung von Wehrpflichtigen oder steuerlichen Zwecken dienten. Die Entwicklung in den letzten Jahrzehnten des Reiches machen die folgenden Zahlen deutlich:
Der Anstieg auf eine Million Menschen ist nicht mehr das Ergebnis der traditionellen Binnenmigration, sondern vor allem auf die Vertreibung und Flucht von geschätzten 1,5 Millionen Muslimen aus Südosteuropa und den Kaukasusländern infolge des russisch-türkischen Kriegs (1877/78) und der Balkankriege (1912/13) zurückzuführen. Ihre provisorische Unterbringung hat die Möglichkeiten der Stadt auf das Äußerste strapaziert.
Straßen und Plätze
So entschieden die Osmanen die Stadtsilhouette durch ihre Moscheen veränderten, so wenig griffen sie in den Grundriss ein. Lediglich eine der alten Ausfallstraßen von Byzanz, die
Mese
, wurde teilweise ausgebaut. Sie führte vom Topkapı Sarayı über die Aya Sofya zum Edirne Kapı. Ihre Fortsetzung bildete die seit römischer Zeit benutzte Via Egnatia bis Italien. Jedoch hatte die großzügige Hallenstraße schon zur Zeit des Vierten Kreuzzugs (1204) ihren Charakter verloren. Ihr repräsentativster Abschnitt war in osmanischer Zeit der Divanyolu zwischen Aya Sofya und Bâyezîd-Platz (den man heute abweichend vom Sultansnamen aus unerfindlichen Gründen «Beyazit» nennt). Seinen Namen verdankt der «Diwan-Weg» der Tatsache, dass er für die Mitglieder des «Staatsrats»
(Divan-i hümâyûn)
, der sich im Serail regelmäßig versammelte, als Zeremonialstraße diente.
Ab Ende des 16. Jahrhunderts entstanden am Divanyolu wichtige Stiftungskomplexe aus Moscheen, Medresen, Bibliotheken und Bädern. Anders als in der Antike, als man die Grabmäler der Vornehmen an Ausfallstraßen anlegte, war der Divanyolu als innerstädtische Verbindung links und rechts mit Mausoleen und Grabbezirken umgeben. Am Beyazit-Platz zweigt eine zweite, schon in byzantinischer Zeit benutzte Straße nach Yedikule ab. Bis ins 20 Jahrhundert genügten diese beiden großen Ausfallstraßen für die europäische Stadt. Auf der asiatischen Seite begann der alte Karawanenweg nach Mesopotamien in Üsküdar. Daran erinnert heute noch der Name einer der teuren Wohnlagen (Bağdat Caddesi).
In den Grundstücksbeschreibungen der Stiftungsurkunden, die damals einen Katasterplan ersetzen mussten, begegnen wir oft den Bezeichnungen «Öffentliche Straße» und «Privatstraße». Das heißt nicht, dass Letztere im Eigentum von Privatleuten war. Vielmehr waren es Wege ohne Durchgangsverkehr, wo man sich untereinander kannte und Fremden mit Vorsicht, Neugier oder gar Misstrauen begegnete. Ein typischer Eintrag in einer Stiftungsurkunde aus dem 16. Jahrhundert lautet:
Das Haus besteht aus einem ebenerdigen Gebäude mit zwei Räumen und einem Schlafraum und einem Stallraum, einem weiteren ebenerdigen Bau,
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