Italienische Novellen, Band 3
hat, vom Henker zu Boden geworfen sehen? O meine Schwester, laß die Stimme der Natur, des Blutes und der Liebe, die stets zwischen uns waltete, dich bewegen, mich, da es ja in deinen Kräften steht, von einem so jämmerlichen und schändlichen Ende zu befreien! Ich habe gefehlt, ich gestehe es; du, Schwester, die meine Fehler wiedergutmachen kann, sei nicht karg mit deiner Hilfe! Hat dir Juriste gesagt, daß er dich zur Frau nehmen könne, warum willst du es nicht für möglich halten, daß es geschehe? Du bist sehr schön, mit allen Reizen begabt, womit die Natur eine Edelfrau schmücken kann; du bist von guter Familie und anmutig, besitzest eine wunderliebliche Art dich auszudrücken, lauter Vorzüge, die dich samt und sonders dem Kaiser der ganzen Welt, geschweige dem Juriste, wünschenswert machen müssen. Du hast also nicht Grund, zu fürchten, daß Juriste zögern werde, dich zum Weibe zu nehmen, und so ist deine Ehre gesichert und zugleich deines Bruders Leben gerettet.«
Vico weinte bei diesen Worten, und mit ihm weinte Epitia, die Vico umarmt hielt und nicht eher wieder losließ, bis sie, von den Tränen des Bruders gerührt, ihm versprach, sich seinem Rate gemäß dem Juriste hinzugeben, wenn dieser ihm das Leben schenke und sie in der Hoffnung befestige, daß er sie zum Weib nehme. Als dies unter ihnen beschlossen war, begab sich die Jungfrau am folgenden Tage zu Juriste und sagte ihm, die Aussicht, die er ihr eröffnet habe, nach den ersten Zusammenkünften sein Weib zu werden, und der Wunsch, den Bruder nicht nur vom Tode, sondern von aller Strafe, die er durch sein Vergehen verwirkt haben könne, zu befreien, hätten sie zu dem Entschluß gebracht, sich ganz seiner Willkür zu überlassen; aus beiden Rücksichten sei sie also bereit, sich ihm hinzugeben; vor allem aber bestehe sie darauf, daß er ihr das Leben und die Freiheit ihres Bruders verspreche. Juriste hielt sich für den glücklichsten der Menschen, daß er ein so schönes und reizendes Mädchen genießen solle, und sagte ihr, er mache ihr jetzt dieselben Hoffnungen, die er ihr neulich gemacht habe, und der Bruder solle ihr den Morgen, nachdem sie mit ihm zusammengewesen wäre, freigegeben werden. Nachdem sie zusammen zu Nacht gespeist, begaben sich Juriste und Epitia zu Bett, wo der Niederträchtige sich vollkommen an dem Mädchen ersättigte. Ehe er sich aber mit der Jungfrau zur Ruhe begeben, hatte er, statt Vico freizulassen, Befehl gegeben, ihn sogleich zu enthaupten.
Das Mädchen konnte vor Begierde, ihren Bruder frei zu sehen, das Erscheinen des Tages kaum erwarten, und nie hatte ihr die Sonne so säumig geschienen, den Tag heraufzuführen, als in dieser Nacht. Als es hell wurde, entwand sich Epitia den Armen des Juriste und bat ihn mit den zärtlichsten Worten, daß er die Hoffnung, die er ihr gegeben, sie zum Weibe zu nehmen, erfüllen und vor allem ihr den Bruder frei zuschicken möge. Er antwortete ihr, er habe in ihrer Umarmung volle Freude genossen und sehe also gern, wenn sie die Hoffnung nähre, die er ihr gegeben habe; den Bruder werde er ihr ins Haus schicken. Nach diesen Worten ließ er den Gefangenwärter kommen und sprach: »Geh in den Kerker und hole den Bruder dieser Frau und bring ihn in ihre Wohnung!«
Als Epitia dies hörte, begab sie sich voller Freuden nach Hause und erwartete ihren Bruder. Der Kerkermeister ließ den Leichnam des Vico auf eine Bahre heben, legte ihm das Haupt unter die Füße, spreitete ein schwarzes Tuch darüber und ließ ihn nach Epitias Hause tragen; er selbst schritt dem Zuge vorauf. Da sie ins Haus traten, ließ er das Mädchen rufen und sprach: »Dies ist Euer Bruder, den Euch der Herr Statthalter aus dem Gefängnis freigibt.«
Mit diesen Worten ließ er das Tuch wegziehen und zeigte ihr den Bruder in dem Zustande, wie ihr vernommen habt. Kaum möchte eine Zunge imstande sein, es auszusprechen, oder ein menschliches Gemüt, es zu fassen, welcher Schmerz und welcher Schrecken über Epitia kam, indem sie jetzt ihren Bruder auf diese Weise getötet erblickte, den sie erwartet hatte, mit frohlockendem Herzen sobald als lebend und frei von jeder Pein begrüßen zu können, und gewiß nehmt auch ihr, meine Damen, an, daß der Schmerz der Unglücklichen so groß war, daß er jede Art von Entsetzen übertraf. Dennoch verschloß sie alles in ihrem Herzen, und wo jedes andere Weib geweint und geschrieen haben würde, blieb sie, die von der Philosophie gelernt hatte, wie der menschliche Geist in
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