Jack Fleming 02 - Blutjagd
Maureen.«
Ich erkannte sie sofort. Ihr Haar war anders, sie hatte es hochgesteckt, und über ihrer Stirn hingen viele kleine Löckchen. Sie trug einen hohen Kragen, an dem eine Gemme aus Gold und Elfenbein befestigt war, die ich schon an ihr gesehen hatte. Ihre Haltung und ihr Gesichtsausdruck waren steif, aber das war Maureen. Ihr Gesicht entsprach dem in meiner Erinnerung. Escott beugte sich vor und musterte das Bild.
»Maureen war einundzwanzig. Wie Sie unten sehen können, wurden die Bilder im Jahr 1881 aufgenommen. Ach ja, damals waren wir hübsche Mädchen, sämtliche Jungs waren hinter uns her.«
»Hat sie je geheiratet?«, fragte Escott.
»Nein. Keine von uns. Wir wurden schließlich alte Jungfern. Manchmal kommt es ebenso. So etwas plant man nicht, es geschieht einfach. Unsere lieben Eltern verstarben, und wir blieben allein zurück; wir konnten den Gedanken nicht ertragen, dass wir durch eine Heirat voneinander getrennt werden sollten. Das Leben ging weiter, und wir widmeten uns wohltätiger Arbeit und der Kirche und dem Literaturklub und dem Nähkränzchen. Damals erschien es uns, dass es so viel für uns zu tun gab, und die Jahre gingen so rasch vorüber, aber dann wurde alles anders.
Sie traf ihn bei einem Treffen des Literaturklubs. Man sprach gerade über irgendein schrecklich beliebtes Buch, das gerade erschienen war, aber heute könnte ich Ihnen den Titel nicht mehr nennen, selbst wenn ich es versuchte. Er hieß Jonathan Barrett, und wir zogen ihn ein bisschen auf, wissen Sie, wegen seiner Namensähnlichkeit mit Elizabeth Barrett Browning. Er nahm es sehr charmant auf, sah sehr gut aus, und die Mädels waren alle ganz vernarrt in ihn, aber Maureen war die Einzige, mit der er sich bei jedem Treffen unterhielt. Sie war damals in den Dreißigern und er wohl in den Zwanzigern, und ich versuchte ihr begreiflich zu machen, dass er zu jung für sie war, aber das kümmerte sie nicht. Er war so charmant und wohlerzogen, dass ich ihm nicht böse oder auf sie eifersüchtig sein konnte, und so besuchte er uns oft abends zu Hause.
Sie ahnen wahrscheinlich schon den Rest, im Unterschied zu mir damals. Unser Leben veränderte sich, und ich bemerkte es überhaupt nicht. Maureen war so glücklich, und ich freute mich für sie, und vermutlich wäre heutzutage niemand allzu schockiert über das, was geschah.
Damals wurden die Ladies noch anständig umworben. Es gab Anstandsdamen und andere Hemmnisse; es ist ein Wunder, dass es überhaupt zu Hochzeiten kam mit all den Manieriertheiten, den Anforderungen und den Formalitäten. Nur ›leichte‹ Mädchen dachten überhaupt daran, sich allein mit einem Mann zu treffen, und falls es noch weiter ging, war man natürlich in den anständigen Kreisen nicht mehr gesellschaftsfähig. Aber sie war in ihn verliebt. Das war ich wohl auch ein wenig ... manchmal traf mich ein Blick aus seinen Augen wie ein Blitz, und ich erschauerte am ganzen Körper. Wenn ich es gewesen wäre und nicht Maureen, dann hätte ich das Gleiche getan, und wir wären ein Liebespaar geworden, wie sie es waren.«
Diese Neuigkeit überraschte mich nicht, aber sie versetzte mir einen bemerkenswert tiefen Stich.
»Sie waren mehrere Jahre zusammen. Er war häufig geschäftlich unterwegs – er erwähnte Geldanlagen und dergleichen – und während der ganzen Zeit sprach er nie von Heirat. Unsere Freunde spekulierten darüber, und ich ebenfalls – wenigstens gegenüber Maureen – aber sie sagte mir, ich solle sie nicht zu etwas drängen, und verbat mir, mit Jonathan darüber zu sprechen. Sie zu etwas drängen – das ging elf Jahre lang so, können Sie das glauben? Elf Jahre des Umwerbens, oder jedenfalls dachte ich das damals. Er kam nur des Nachts. Wir drei kamen auf Besuch zusammen, dann entbot er uns eine gute Nacht und ging. Maureen und ich verschlossen die Türen, drehten das Gas herunter und gingen auf unsere Zimmer. Vermutlich warteten sie, bis ich schlief, und dann kam er irgendwie zu ihr. Damals muss ich entweder vollkommen blind oder ganz und gar arglos gewesen sein. Ich erriet kein einziges Mal, was da vor sich ging, und so ging es viele Jahre. Vielleicht ist es immer noch so.«
»Was meinen Sie damit?«
»Wenn sie noch am Leben wäre ... noch atmete, meine ich. Wir schrieben das Jahr 1904 – man sagt, dass die Welt damals ruhiger war, aber das stimmt nicht. Es gab ebenso viel Lärm auf den Straßen wie heutzutage. Die Wagen ratterten und machten besonders auf dem Kopfsteinpflaster einen
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