Jack Holborn unter den Freibeutern
viel Wein
zurückzuführen war.
Trotzdem sah ich mir am Morgen die Wand an, an
die er recht sorgfältig geschrieben hatte, weil ich nicht wollte, daß so unerfreuliche Mitteilungen dem Anblick anderer Augen preisgegeben würden.
Aber dann passierte etwas, was mich schnell und
listig nach oben gehen ließ, um wieder die Wand zu
betrachten. Der Zufall brütet Geister so schnell wie Maden im Käse.
Denn ich erhielt einen Brief von ihm: vom Mann in
Newgate selber. Ein Brief: Jack Holborn, Dover
Street 17, überbracht vom Gefängnisbeamten.
Er enthielt nichts als Gemeinplätze. Sagte, er hätte sich oft gefragt, was aus mir geworden sei. Fragte
sich jetzt noch mehr. War sehr traurig über mein Geheimnis. Verstand meine Gefühle. Trotzdem wünsch-
te er mir Glück, und würde ich ihm einen Gefallen
tun – den letzten, den zu erbitten er imstande sein werde – und ihn besuchen, bevor er gehängt wurde?
Er hätte ein großes Verlangen, mich wiederzusehen:
wenn mir der Weg offenstünde, zu ihm zu kommen.
»Der Weg offenstünde.« Das waren seine Worte.
Vermutlich meinte er, wenn Lord Sheringham und
Mister Trumpet keine Einwände erhoben … Er muß
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etwas dergleichen erwartet haben. Aber wenn dem so
war, so irrte er sich. Sie sagten nichts. Daß er den Versuch machen würde, war klar. Er würde nach jedem Strohhalm greifen. Ein Narr hätte das vorausse-
hen können, daß er an einer schwachen Stelle angreifen würde. Er war nicht der Mann, der nachgab – bis er tot war.
So lasen sie also den Brief zwei- oder dreimal und
gaben ihn zurück. Bestimmt waren sie davon nicht
überrascht, Mister Trumpet insbesondere schien fast so zornig wie auf einen plumpen Schwindler. Er er-zählte mir, was ich lange befürchtet hatte. Das Versprechen war nicht mehr als eine klug erdachte Ver-
mutung und eine billige Lüge, um meine Treue zu er-
kaufen. Trotzdem wurde ich böse und beschloß, mich
von ihm fernzuhalten und, falls das nicht möglich
war, nicht mehr zu sagen, als die einfache Höflichkeit verlangte.
Aber wie sich die Dinge entwickelten, hätte ich mir keine Mühe zu geben brauchen. Am 9. Dezember
verschwand Mister Trumpet. Irgendwann an jenem
Morgen verließ er das Haus und kam nicht zurück.
Mister Trumpet war fort. Unser kluger Ratgeber, un-
ser listiger Gefährte: der liebe, großartige Mister Solomon Trumpet. Das war ein Schlag, mit dem ich
nicht gerechnet hatte.
Er hinterließ eine Nachricht, zur Erklärung. Es war infolge seines Zeugnisses. Ein Haftbefehl war gegen ihn erlassen worden, weil er sich gegen das Deporta-tionsurteil vergangen hatte. Mister Gracechurch –
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dieser übereifrige Anwalt – hatte es getan. Mister
Gracechurch – ich werde ihm diesen Akt der Geset-
zestreue nicht vergessen.
Lange Zeit konnte ich nicht glauben, daß er nicht
zurückkommen würde. Schritte auf der Straße, Tü-
ren, die sich öffneten und schlossen – alle gaben meinem Herzen einen Stoß. Dann schließlich fügte ich
mich und fühlte mich infolgedessen kalt und einsam.
Ich wunderte mich, daß Lord Sheringham ihm
nicht nachschickte (es hätte sich ja wegen des Haftbefehls etwas tun lassen), aber er sagte, Mister Trumpet würde es uns nicht danken. Er war kein Kind, das
wartete, bis man ihm gut zuredete. Er war ein er-
wachsener Mann, der sehr gut wußte, was er im Sinn
hatte. Er würde von selbst wiederkommen, wenn er
wollte, und keinen Tag früher.
Am 10. Dezember erhielt ich von dem Mann in
Newgate einen zweiten Brief. Das war ein Abschied,
einfach und still. Er verstand, daß ich nicht zu ihm kommen wollte. Er achtete die Gründe, die ich dafür haben mochte. Er wollte sie nicht wissen. Es tat ihm leid, daß der letzte Abschied so sein sollte, ja daß er überhaupt sein sollte. Es schien, daß er irgendwie ei-ne gute Meinung von mir hatte. Ich hatte ihm einen
gewissen Eindruck gemacht. Er dachte oft an mich
und würde das auch weiter tun, solange er konnte –
was leider nicht so lange war, wie er wohl gewünscht hätte. Aber alle Dinge, die guten und schlechten,
müssen ein Ende haben, und da er immerhin sowas
wie ein Gentleman sei, würde er nichts verlassen, und 259
am wenigstens die Welt, ohne gebührenden Abschied
zu nehmen.
Er endete mit einem mildtätigen Nachwort, indem
er mich bat, die bedürftige Dame zu entlohnen, die
den Brief überbrachte. Würde ich ihr einen Sovereign geben, da er dummerweise seinen Geldbeutel zu Hause gelassen hätte? Er schrieb
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