Jack McEvoy 01 - Der Poet
Versprechen halten, hat er nichts gegen mich in der Hand außer seinem Verdacht.«
»Was mich betrifft, können Sie ganz beruhigt sein.« Einen halben Block von der Foundation entfernt fand er einen Parkplatz an der Connecticut. Ich glaube, wir waren beide ziemlich nervös.
Kein Wachmann, den wir täuschen mussten. Keine Angestellten, die Überstunden machten und uns überraschen konnten. Warren schloss die Eingangstür auf und wusste genau, wohin wir gehen mussten.
Die Registratur hatte ungefähr die Größe einer Doppelgarage und war mit zweieinhalb Meter hohen Stahlregalen voller Aktendeckel mit Markierungen in unterschiedlichen Farben zugestellt.
»Und jetzt?«, flüsterte ich.
Warren holte den zusammengefalteten Ausdruck aus der Tasche.
»Die Unterlagen für die Selbstmord-Untersuchung stehen dort drüben zusammen. Wir suchen diese Namen heraus, nehmen die Protokolle mit in mein Büro und kopieren die Seiten, die wir brauchen. Ich habe den Kopierer angelassen, als ich ging. Er braucht nicht einmal erst warm zu werden. Und Sie brauchen nicht zu flüstern. Außer uns ist niemand hier.«
Mir fiel auf, dass er zu oft >wir< sagte, aber ich machte keine Bemerkung darüber. Er führte mich zu einem der Gänge zwischen den Regalen. Die Akten für die Selbstmord-Studie trugen rote Markierungen.
»Da sind sie«, sagte Warren und richtete den Finger darauf.
Jede einzelne Akte war dünn, trotzdem nahmen sie insgesamt drei Regalfächer ein. Oline Frederick hatte Recht gehabt, es waren Hunderte. Jede einzelne bedeutete einen Tod. Jetzt blieb nur noch zu hoffen, dass ein paar von ihnen nicht in dieses Regal gehörten. Warren händigte mir den Ausdruck aus, und ich überflog die dreizehn Namen.
»Von all diesen Akten betreffen nur dreizehn Cops in Mordkommissionen?«
»Ja. Das Projekt hat die Daten von mehr als sechzehnhundert Selbstmorden gesammelt. Ungefähr dreihundert pro Jahr. Aber die meisten waren Streifenbeamte. Die Männer von den Mordkommissionen bekommen auch diese Toten zu sehen, aber ich nehme an, wenn sie an den Tatort kommen, ist für sie das Schlimmste schon vorüber. Sie sind gewöhnlich die Besten, die Intelligentesten und die Zähesten. Deshalb begehen nicht viele Selbstmord. Ich bin auch auf Ihren Bruder und Brooks in Chicago gestoßen, aber ich dachte, über die wissen Sie bereits Bescheid.«
Ich nickte nur.
»Sie sind alphabetisch geordnet«, sagte er. »Lesen Sie mir die Namen auf der Liste vor, und ich ziehe die Akten heraus. Und geben Sie mir Ihr Notizbuch.«
Die Aktion dauerte weniger als fünf Minuten. Warren riss leere Seiten aus meinem Notizbuch und markierte die Stellen in den Stapeln, damit wir die Akten schnell wieder hineinschieben konnten. Unsere Arbeit hatte keinerlei Ähnlichkeit damit, einen Informanten wie Deep Throat in einer Garage zu treffen, um mit seiner Hilfe einen Präsidenten zur Strecke zu bringen. Dennoch galten dieselben Regeln. Ein Informant, ganz gleich, was er zu bieten hat, hat ein Motiv dafür, dass er sich in Gefahr begibt. Bei Warren konnte ich das wahre Motiv nicht erkennen. Es war eine gute Story, aber es war nicht seine. Wenn er mir half, brachte ihm das nichts ein außer dem guten Gefühl, der Wahrheit ans Licht geholfen zu haben. Reichte das aus? Ich wusste es nicht, gelangte aber zu dem Schluss, dass ich ihn von dem Moment an, in dem dieses geheiligte Band zwischen Journalist und geheimem Informanten zustande kam, auf Abstand halten musste. So lange, bis ich sein wahres Motiv kannte.
Als alle Akten beisammen waren, gingen wir rasch zwei Korridore entlang, bis wir Zimmer 303 erreicht hatten. Dort blieb Warren plötzlich stehen, und ich wäre fast gegen ihn geprallt. Die Tür zu seinem Büro stand fünf Zentimeter weit offen. Er deutete darauf und schüttelte den Kopf, um mir zu signalisieren, dass er sie nicht so hinterlassen hatte. Ich zuckte mit den Schultern. Er war hier der Boss. Er näherte sich dem Spalt und lauschte. Ich konnte auch etwas hören. Es klang wie das Knistern von Papieren, dann wie eine Art Wischgeräusch. Kurz darauf wurde die Tür plötzlich aufgerissen.
Warren machte als Erster eine erschrockene Bewegung, danach ich und dann der Asiate, der mit einem Staubwedel in der einen und einem Müllbeutel in der anderen Hand auf der Schwelle stand. Wir brauchten alle einen Moment, bis wir wieder normal atmen konnten.
»Sorry, Mister«, sagte der Mann. »Ich muss Ihr Büro putzen.«
»Ach ja«, sagte Warren lächelnd. »Das ist schön.
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