Jack McEvoy 05 - Unbekannt verzogen
seine Entschlossenheit und ging weiter nach oben.
Auf der drittletzten Stufe knipste er die Lampe aus und wartete, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Wenige Augenblicke später glaubte er, aus dem Raum über ihm schwaches Licht kommen zu sehen. Es war Kerzenlicht, das an Decke und Wänden leckte. Gegen die Seitenwand gedrückt, stieg er die letzten drei Stufen hinauf.
Der Raum war groß und voll mit Menschen. Er konnte die provisorischen Betten sehen, die an den zwei Längswänden aufgereiht waren. Auf allen schliefen reglose Gestalten, wie Kleiderhaufen auf Wühltischen. Am Ende des Raums brannte eine einzelne Kerze, und ein Mädchen, ein paar Jahre älter und schmutziger, erhitzte über der Flamme einen Kronkorken. Im flackernden Licht betrachtete der Junge ihr Gesicht. Er konnte sehen, dass es nicht Isabelle war.
Er begann, den Gang zwischen den Schlafsäcken und Zeitungspritschen entlangzugehen. Auf der Suche nach dem vertrauten Gesicht schaute er von einer Seite auf die andere. Es war dunkel, aber er war seiner Sache sicher. Er würde sie erkennen, wenn er sie sah.
Er kam hinten an, bei dem Mädchen mit dem Kronkorken. Und Isabelle war nicht da.
»Wen suchst du?«, fragte das Mädchen.
Sie zog den Kolben der Spritze zurück und saugte die braunschwarze Flüssigkeit durch den Filter einer Kippe aus dem Kronkorken. Im Schummerlicht konnte der Junge die Einstichnarben an ihrem Hals erkennen.
»Niemanden, den du kennst«, sagte er.
Überrascht über seine Stimme, blickte sie von ihrer Beschäftigung auf und in sein Gesicht. Sie sah das junge Gesicht in der Tarnung aus zu großen und schmutzigen Kleidern.
»Du bist aber noch jung«, sagte sie. »Verzieh dich lieber, bevor der Hausmann zurückkommt.«
Der Junge wusste, was sie meinte. Alle besetzten Häuser in Hollywood hatten einen Vorsteher. Den so genannten Hausmann. Er kassierte eine Gebühr in Form von Geld, Drogen oder Fleisch.
»Wenn er dich findet, reißt er dir den Arsch auf und wirft dich –«
Plötzlich verstummte sie und blies die Kerze aus, sodass er im Dunkeln stand. Er drehte sich zur Tür um, und alle seine Ängste ballten sich in ihm zusammen wie eine Faust, die eine Blüte zerquetscht. An der Treppe stand die Silhouette eines Mannes. Eines großen Mannes. Wild abstehendes Haar. Der Hausmann. Unwillkürlich wich der Junge einen Schritt zurück und stolperte. Er stürzte. Die Taschenlampe fiel scheppernd auf den Boden.
Der Mann in der Tür kam auf ihn zu.
»Hanky-Boy!«, brüllte der Mann. »Komm her, Hank!«
6
Pierce wachte im Morgengrauen auf. Die Sonne rettete ihn aus einem Traum, in dem er vor einem Mann davonlief, dessen Gesicht er nicht sehen konnte. Er hatte noch keine Vorhänge in der Wohnung, und das Licht strömte durch die Fenster und brannte durch seine Lider. Er kroch aus dem Schlafsack, schaute auf das Foto von Lilly, das er auf dem Boden liegen gelassen hatte, und ging unter die Dusche. Als er fertig war, musste er sich mit zwei T-Shirts abtrocknen, die er aus einer der Schachteln mit Kleidern gegraben hatte. Er hatte vergessen, Handtücher zu kaufen.
Er ging zur Main Street, um Kaffee, einen Citrus-Shake und die Samstagszeitung zu kaufen. Er las und trank langsam und hatte deswegen fast ein schlechtes Gewissen. Sonst war er samstags meistens schon bei Tagesanbruch im Labor.
Als er die Zeitung gelesen hatte, war es fast neun. Er ging zum Sands zurück und stieg in sein Auto, aber er fuhr nicht wie sonst ins Labor.
Fünfzehn Minuten vor zehn Uhr hielt er in Hollywood vor dem Gebäude, in dem sich das Büro von L. A. Darlings befand. Es war ein mehrgeschossiger Gewerbebau, der so unverfänglich aussah wie ein McDonald’s. L. A. Darlings befand sich in Suite 310. Von der Milchglastür prangte in großen Lettern der Schriftzug ENTREPRENEURIAL CONCEPTS UNLIMITED. Darunter standen in kleinerer Schrift die Namen zehn verschiedener Websites, darunter L. A. Darlings, die anscheinend unter das Dach von Entrepreneurial Concepts fielen. Aus den Namen der Internetadressen ging hervor, dass sie alle Teil des dunklen Internetuniversums waren, das vom Geschäft mit dem Sex lebte.
Die Tür war abgeschlossen, aber Pierce war auch ein paar Minuten zu früh gekommen. Er beschloss, die Zeit zu nutzen, um einen Spaziergang zu machen und sich zu überlegen, was er sagen und wie er die Sache anpacken sollte.
»Hier, ich mache gleich auf.«
Als er sich umdrehte, kam eine Frau mit
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