Jack Reacher 01: Größenwahn
anständigen Band in einer einfachen, alten Bar. Joe lag bis morgen auf Eis. Margrave war eine Million Meilen weit weg. Ich hatte keine Probleme. Ich wollte nicht, daß der Abend je endete.
Die Band spielte noch ziemlich lange. Bis irgendwann nach Mitternacht, schätzte ich. Wir waren aufgeputscht und sentimental. Wollten nicht an die Rückfahrt denken. Es hatte wieder angefangen, leicht zu regnen. Wir wollten nicht anderthalb Stunden im Regen zurückfahren. Nicht mit soviel Bier im Blut. Hätte in einem Graben enden können. Oder im Gefängnis. Ein Schild versprach in einer Meile Entfernung ein Motel. Roscoe sagte, wir sollten dorthin. Sie fand das sehr komisch. Als würden wir durchbrennen oder so. Als hätte ich sie zu genau diesem Zweck über die Staatsgrenze gebracht. Das stimmte eigentlich nicht ganz. Aber ich hatte nicht viel dagegen einzuwenden.
Also stolperten wir mit klingelnden Ohren aus der Bar und stiegen in den Bentley. Wir fuhren den alten Wagen langsam und vorsichtig ein Meile weit über die nasse Straße. Sahen das Motel vor uns. Ein langgestrecktes, altes Gebäude, wie aus einem Film. Ich bog auf den Parkplatz ein und ging ins Büro.
Weckte den Typen an der Rezeption. Gab ihm das Geld und verabredete einen Weckruf. Bekam den Schlüssel und ging zurück zum Wagen. Ich fuhr bis zu unserem Zimmer, und wir gingen hinein. Es war ein anständiges, anonymes Zimmer. Hätte überall in Amerika sein können. Aber es war warm und behaglich mit dem Regen, der aufs Dach prasselte. Und es hatte ein großes Bett.
Ich wollte nicht, daß Roscoe sich erkältete. Sie mußte das feuchte Hemd ausziehen. Das sagte ich ihr auch. Sie kicherte. Sagte, sie hätte noch gar nicht bemerkt, daß ich auch medizinische Kenntnisse hätte. Ich sagte ihr, wir hätten genug für die wichtigsten Notfälle beigebracht bekommen.
»Ist dies ein wichtiger Notfall?« kicherte sie.
»Das wird es bald sein«, lachte ich. »Wenn du nicht dieses Hemd ausziehst.« Also zog sie es aus. Dann bedeckte ich ihren Körper. Sie war so wunderschön, so aufreizend. Sie war zu allem bereit.
Nachher lagen wir erschöpft ineinander verschlungen und redeten. Über das, was wir waren, und das, was wir gemacht hatten. Über das, was wir sein wollten, und das, was wir machen wollten. Sie erzählte über ihre Familie. Es war eine traurige Geschichte, in der Menschen über Generationen hinweg vom Pech verfolgt wurden. Es hörte sich an, als wären es anständige Leute gewesen, Farmer, Menschen, die es immer nur fast schafften. Leute, die sich durch die harten Zeiten ohne Kunstdünger und Maschinen gekämpft hatten und den Mächten der Natur ausgeliefert waren. Einer ihrer Vorfahren hätte fast sein Glück gemacht, aber er verlor sein bestes Land, als der Urgroßvater von Bürgermeister Teale die Eisenbahn baute. Dann wurden ein paar Hypotheken eingefordert. Der Haß hatte die Jahre überdauert, so daß Roscoe jetzt Margrave zwar liebte, aber es haßte zu sehen, wie Teale herumstolzierte, als würde alles ihm und seiner Familie gehören. Was leider den Tatsachen entsprach, und zwar seit ewigen Zeiten.
Ich sprach mit ihr über Joe. Erzählte ihr Dinge, die ich noch niemandem erzählt hatte. Die ganzen Sachen, die ich für mich behalten hatte. Alles über meine Gefühle für ihn und die Gründe, warum ich meinte, wegen seines Todes etwas tun zu müssen. Und wie gut es mir damit ging. Wir redeten über eine Menge persönlicher Dinge. Redeten eine lange Zeit und schliefen engumschlungen ein.
Es war, als hätte der Typ direkt danach zum Wecken an die Tür geklopft. Dienstag. Wir standen auf und stolperten herum. Die Morgensonne kämpfte gegen die diesige Dämmerung. Innerhalb von fünf Minuten waren wir im Bentley und fuhren ostwärts. Auf der taufeuchten Windschutzscheibe blendete die aufgehende Sonne.
Langsam wurden wir wach. Wir fuhren über die Staatsgrenze zurück nach Georgia. Überquerten in Franklin den Fluß. Fuhren mit gleichmäßig hoher Geschwindigkeit durch das leere Farmland. Die Felder waren unter einer Decke fließenden Morgennebels versteckt. Sie hing wie Dampf über der roten Erde. Die Sonne stieg und schickte sich an, ihn aufzulösen.
Keiner von uns sprach. Wir wollten uns unseren Kokon der stillen Vertrautheit so lange wie möglich erhalten. Unsere Rückkehr nach Margrave würde die Blase früh genug zum Platzen bringen. Ich lenkte den großen, majestätischen Wagen über die Landstraßen und gab mich meinen Hoffnungen hin. Hoffte, es
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