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Jacob beschließt zu lieben - Roman

Jacob beschließt zu lieben - Roman

Titel: Jacob beschließt zu lieben - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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eine ebenso unsichere Gegenwart geflohen war. Zuvor hatte ich die ganze Nacht lang das aschfahle Gesicht des Popa Pamfilie angeschaut. Ich hatte das Glas neben seinem Kopf mit frischem Wasser gefüllt und seine Hand gehalten.
    Der Güterzug nach Temeschwar wurde vor einer engen Kurve langsamer, so wie es auch der Deportationszug getan hatte. Ich lief neben ihm her, bis ich eine halb offene Waggontüre fand und mich hochziehen konnte. Es war der Sommer 1950.

6.
Kapitel
    I ch bangte um die Rückkehr, wie man um eine Frau bangt, die man begehrt und doch fürchtet. Obwohl ich nur achtzig Kilometer von zu Hause entfernt gewesen war, fühlte ich mich, als hätte ich die Türen zu einer neuen und doch bekannten Welt aufgestoßen. Ich ließ den Berg mit seinen Geheimnissen, den Leichnam des Popen, der nun bestimmt vor Gott begründen musste, wieso er die Gläubigen und die Ungläubigen vermischt hatte, und Raminas Mann, der als Sargbauer erfolgreicher war denn als Bulibaşa, hinter mir.
    Die Erinnerung an sie fiel in nur wenigen Stunden so sehr von mir ab, dass ich sie bei der Einfahrt in Temeschwar nur noch für einen vagen Traum hielt, nicht anders als früher mein Triebswetter Leben. Noch bevor der Zug anhielt, sprang ich aus dem Waggon, um eine Kontrolle am Bahnhof zu vermeiden. Ich lief über die Schienen, wich einem abfahrenden Zug aus, schlüpfte durch ein Loch im Zaun und rutschte eine Böschung hinunter. Dann fand ich mich in der Stadt wieder.
    Es fehlte wenig, und ich wäre direkt einer Milizpatrouille in die Arme gelaufen. Ich war aufgestanden, hatte meine ärmliche Kleidung abgeklopft und die Augen geschlossen, weil mir vor Hunger schwindlig geworden war. Als ich sie wieder öffnete, waren der Milizmann und die zwei Soldaten nur noch wenige Meter von mir entfernt,aber so sehr in ein Gespräch vertieft, dass sie mich nicht sahen.
    Ich zog mich hinter einen Stapel Holzstämme zurück, den man wohl für den Gleisbau dort aufgehäuft hatte. Ich hockte mich hin und presste die Knie gegen den Bauch, aber der Hunger war hartnäckig. Ich weiß nicht, ob es derselbe war wie der lothringische Hunger, der Caspar und Frederick geplagt hatte, oder wie der, der später die ersten Kolonisten hinwegraffte. Ob es Großvaters und Großmutters Hunger war oder ein neuartiger, der mir bis hierhin gefolgt war.
    Ich hatte nur ein paar Kartoffeln gegessen, die im Haus des Popen übrig geblieben waren. Das war eigentlich keine lange Zeit, und doch schien mich dieser lothringische, schwäbische, rumänische Hunger von innen her aufzehren zu wollen. Während ich schrumpfte, würde er zunehmen, rundlich und träge werden, wie die Priester, die von ihrem Glauben satt werden konnten.
    Als das Geräusch der Stiefel und der Stimmen verstummt war, hob ich den Kopf und schaute umher. Ich suchte nach einer Möglichkeit, den Hunger zu stillen. Ein stiller Hunger, ein stillgelegter, die Aussicht verlieh mir Mut. Aber es gab nichts, keine Imbissbude, keine noch so verkommene Kneipe, wie sie um den Josefsplatz zuhauf zu finden waren.
    Ich wagte mich aus meinem Versteck heraus und wandte mich nach links, wo ich das Stadtzentrum vermutete. Während ich versuchte, unbeteiligt und müde zu wirken – ein Arbeiter nach der Schicht oder bloß ein Übernächtigter – und nach den passenden Worten suchte, falls man mich anhalten würde, zuckte ich bei jedem, der mich musterte, zusammen.
    Ich war im Grunde genommen ein entflohener Strafgefangener, bestimmt keiner, der frei auf den Straßen der Stadt herumlaufen durfte. Diese Stadt, die mich als Kind aufgenommen hatte, die gut zu mir gewesen war, in der mich der Fluss nicht gewollt hatte; diese Stadt war nun düster und bedrohlich geworden, wie ein Verbrecher, der mich in eine dunkle Straße drängen und mir das Herz ausreißen wollte. Ich bereute bereits meine Rückkehr nach Temeschwar. Ich fühlte mich wieder ausgeliefert, mir selbst überlassen, doch diesmal nicht wegen der unerträglich leeren Weite, sondern wegen der ebenso unerträglichen Enge, der vielen Körper, die sich mir böse und giftig in den Weg stellten.
    Hinter jedem Gesicht vermutete ich einen Denunzianten, obwohl sich die anderen womöglich genauso fürchteten wie ich. Jeder hier war für den anderen ein möglicher Denunziant. Wenn ich mich unbeobachtet fühlte, sah ich mir die Menschen an und war mir sicher, dass ich kaum noch auf einen von ihnen hätte zählen können. Dass die gründlichste Umwälzung, die unsichtbarste, in ihnen

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