Jade-Augen
aber ich hätte nicht anders handeln können.«
»Du weißt, daß auf die Untreue Steine warten?« sagte er sanft. »Ich habe dir ausreichend Möglichkeit gegeben, zu mir zurückzukehren, genauso wie ich Christopher Ralston gesagt habe, daß ich mich bei rechtzeitiger Rückerstattung großzügig erweisen würde.«
»Ich wußte diese Dinge … aber ich hätte nicht anders handeln können«, wiederholte sie mit der gleichen Festigkeit. »Ich konnte den ›Meisterknoten menschlichen Schicksals‹ nicht lösen.«
»Du mißbrauchst den Dichter, Ayesha. Er bezog sich auf das endgültige Schicksal der Menschheit, nicht auf das unmittelbare Einzelgeschick.«
Ihr Kopf senkte sich zustimmend, aber sie sagte: »Dennoch empfand ich es nicht als unbotmäßig.«
Er schwieg einen Moment lang, erfreute sich im stillen an ihrem Verstand, den er gehegt, ebenso wie er ihren Mut gefördert hatte, der es ihr jetzt ermöglichte, ohne Angst vor ihm zu stehen trotz des drohenden Urteils.
»Wirst du um Gnade bitten, Ayesha?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nicht für mich. Aber für Christopher Ralston.« Anmutig ließ sie sich auf dem harten, kalten Steinfußboden auf den Knien nieder. »Ich möchte für ihn bitten.«
»Er ist ein Mann. Kann er nicht selbst für sich sprechen?«
Ihre Augen hoben sich. »Du wirst es ihm nicht gestatten, Akbar Khan, weil er ein Feringhee ist, der deine Gesetze überschritten hat. Du würdest ihn nicht für fähig halten, eine Verteidigung gegen Gesetze vorzubringen, die er nicht versteht. Er ist von vornherein verurteilt, weil er ein Ungläubiger ist.« Sie wanderte wieder auf einem Grat entlang, aber richtete ihren Mut aus an dem Höchstmaß, das Akbar Khan ihr vor langer Zeit beigebracht hatte. Das kleinste Zögern, das geringste Wanken würde Akbar Khan sein Interesse verlieren lassen. Sobald das geschähe, würde sie keinen Strohhalm mehr für ihr Schicksal geben … oder für das von Kit.
»Und du hast dich entschieden, den wahren Gläubigen für den Ungläubigen aufzugeben, Ayesha«, verwies er sie. »Du würdest doch nicht sagen, daß du das System der Gesetze und der Strafen, die bei ihrer Überschreitung zur Anwendung kommen, nicht verstanden hast?«
»Nein, ich habe sie verstanden. Aber wer bin ich?« fragte sie so ruhig wie zuvor, jedoch mit einem unterschwelligen Aufbegehren. »Kannst du mir wahrhaftig sagen, Akbar Khan, wer ich bin? Bin ich nicht im tiefsten Inneren auch eine Ungläubige?«
»Ah.« Seine Augen verengten sich. »So weit ist es also gekommen? Steh auf.«
Sie kam mit der ihr eigenen geschmeidigen Anmut auf die Füße. Ihr Körper zitterte vor Anspannung, jeder Nerv kurz vor dem Zerreißen in diesem Schicksalsgefecht mit Akbar Khan.
»Weißt du die Antwort auf diese Frage?« wollte er wissen. »Hast du sie während deines Aufenthalts bei dem Feringhee entdeckt?« Er vermeinte die Antwort zu kennen und lauerte jetzt auf ihren Versuch, sie vor ihm zu verbergen.
Aber Ayesha war viel zu vertraut mit seinem Charakter, um irgend etwas anderes ins Spiel zu bringen als die Wahrheit. »Manchmal meine ich sie zu kennen und dann auch wieder nicht.«
Überraschung blitzte einen Moment lang in seinen blauen Augen auf. »Hungerst du nach dem Körper von Christopher Ralston oder nach seiner Seele?«
Diese Frage ließ sie den Kopf heben, und nun war sie es, die Überraschung zeigte. »Nach beidem.«
»Ah.« Heftig stand er auf und klatschte in die Hände. Die Wachen erschienen umgehend. »Bringt Ayesha zurück in ihr Zimmer.«
Sie nahmen sie mit, indessen er zum Fenster ging und in die Schneenacht starrte. Er hatte gedacht, daß er es fertigbrächte, einen durch lüsterne Leidenschaft hervorgerufenen Treuebruch zu entschuldigen, eine verräterische Anpassung an den Feringhee jedoch für ihn unverzeihlich sei. Jetzt schien beides gar nicht mehr so leicht voneinander zu trennen zu sein.
Ungeduldig kehrte er sich vom Fenster ab. Welchen Unterschied machte es am Ende? Sie war nur eine Frau und der Mann ein hündischer Ungläubiger! Warum sollten ihn die Gründe kümmern? Sie hatten ihn beide verraten, und er hatte den Kampf um sein Land fortzusetzen. Er mußte nach Jalalabad marschieren, das immer noch General Sale und seine Truppen besetzt hielten. Jalalabad mußte wieder in afghanischen Besitz übergehen, genauso wie Kandahar, bevor der Sieg vollständig war. Morgen würde er den Feringhee Ralston hängen lassen. Ayesha würde zunächst als Gefangene bleiben. Er konnte sich nicht dazu
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