Jade-Augen
nicht der Mittelteil seiner Armee gewartet, bis die Nachhut den Anschluß gefunden hatte, bevor er den Paß überquerte? Was war mit seinem Flankenschutz? Erklären Sie mir das doch. Er hätte aufgestellt sein müssen, um die Reihen zu schützen.«
»Oh, wie können wir das wissen?« dachte General Elphinstone laut. »Wenn man in einer Situation nicht dabei ist, dann ist es sehr schwer zu urteilen, Macnaghten.«
»Eindeutig muß General Sale sich jetzt in Gundamuk befinden und wartet auf weitere Befehle«, sagte Kit. »Welche Nachricht soll ich ihm schicken?«
»Was denn, natürlich, daß er sofort nach Kabul zurückkehren soll!«
»Zu Befehl, General.« Kit salutierte zackig und schloß die Tür leise hinter sich. Mit jeder neuen Widrigkeit und jeder neuen Pfuscherei erschien ihm das Ganze allmählich als eine Farce, auf gewisse Weise war aus dem schauerlichen Fiasko inzwischen ein Witz geworden. Ein finsterer Witz … einen finstereren gab es kaum … aber ohne ein gewisses Maß an Galgenhumor könnte man in diesem Haus der Verblendung niemals seinen Verstand beisammenhalten.
Der Unteroffizier, der beauftragt wurde, die gefährliche Reise durch das von den Afghanen besetzte Territorium zu Sale nach Gundamuk zu machen, nahm seine Befehle tapfer entgegen. »Ich möchte Ihnen raten, sich afghanische Kleidung zu beschaffen«, empfahl Kit, »auch für Ihre Männer. So haben Sie eine bessere Chance, unwillkommener Aufmerksamkeit zu entgehen.«
Der Rat wurde mit einem stoischen Grinsen angenommen, und der junge Mann trat ab, um seine Eskorte zusammenzustellen. Kit kehrte in seinen Bungalow zurück, wo er unter dem mißbilligenden Blick Harleys, seines Burschen, selbst afghanische Kleidung anlegte, sein Gesicht mit Stiefelwichse braun färbte, in eine pelzgefütterte Schaffelljacke schlüpfte und auf seinem Pferd in die Stadt ritt.
Leicht hatte er sich Rock, Turban und die weite Hose, deren Enden jetzt in den Stiefelschäften steckten, beschaffen können, und er fühlte sich in dieser Ausstaffierung unendlich viel wohler in einer islamischen Stadt. Europäer waren nicht zu sehen und überhaupt nur wenige Menschen unterwegs; die meisten von ihnen standen an Straßenecken oder in Eingängen zu kleinen Gruppen versammelt. Eine Stimmung ängstlicher Erwartung hing in der Luft und ließ Kit die nun schon vertrauten Schauder über den Rücken laufen.
Nachdem er sein Pferd bei Burnes zurückgelassen hatte, ging er zu Fuß weiter zu Akbar Khans Haus, wie er es schon die vergangenen sieben Tage getan hatte, seit er sie im Basar gesehen hatte. Dort stand er im Eingang eines Hauses gegenüber verborgen und bezog seinen stillen Posten, während er weiter mit dem Problem rang, für das sich noch immer keine Lösung bot.
Nichts schien mehr von Bedeutung zu sein als diese Aufgabe, die er sich gestellt hatte. Sie beschäftigte ihn jeden wachen Moment. Er hatte die Sache endlos mit seinen Freunden besprochen, aber ihre Begeisterung und ihr Erfindungsreichtum schien parallel zu der jeweils leerer werdenden Brandyflasche zu schrumpfen. Er konnte ihnen deshalb keinen Vorwurf machen, hatten sie doch nicht sein Wissen von Ayesha-Annabel, das seine Besessenheit nährte. Doch im gleichen Maß, wie sich der Ring um die Briten in Kabul immer enger klammerte, wuchs seine Entschlossenheit … wurde die Befreiung Annabels zum einzigen Lebensinhalt seiner so irrsinnig verzerrten Existenz. Es war der Nachmittag des ersten November.
Ayesha stand an einer Seite des Fensters und blickte hinunter zur Straße auf die bewegungslose Gestalt in afghanischen Gewändern, die das Haus beobachtete. Was meinte er erreichen zu können mit dieser Beobachtung? Das war die Frage, die sie sich jedesmal stellte, wenn sie ihn sah. Und sie wünschte sich leidenschaftlich, daß er fortgehen möge, sie ihrem Leben überlassen würde, damit sie zu ihrem gewohnten Frieden und Gleichmut zurückkehren konnte, bevor er in das bis dahin ruhige Wasser ihres Daseins gesprungen war. Und sie hatte Angst um ihn.
»Wir dürfen niemandem gestatten, vom Kantonnement in die Stadt zu gelangen.« Akbar Khans Stimme drang von dem Flur draußen zu ihr. »Als ersten Schritt werden wir sie in ihrem Kantonnement isolieren.«
»Aber was ist mit Burnes in der Gesandtschaft und den anderen im Schatzamt?« Das war Badar Khans Stimme, und Ayesha wußte, daß die beiden Männer in das Beratungszimmer gingen, wo wieder einmal eine Shura abgehalten wurde. Sie trat näher an den durch einen
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