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Jäger der Nacht

Jäger der Nacht

Titel: Jäger der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wallace Hamilton
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Kleidung und deckte sie mit einer Decke zu. In dem dämmerigen Licht des Wohnzimmers sah ihr Gesicht eingefallener als je zuvor aus. Ihre Hand, die auf der Decke lag, kam Kevin kaum anders als eine knochige Kralle vor. Sie atmete durch den Mund, und ihr Atmen war angestrengt.
    Kevin setzte sich auf den Stuhl neben der Couch, um Wache zu halten. Wenn sie an diesem Abend noch ins Krankenhaus müßte, würde er sich darum kümmern, daß der Krankenwagen gerufen wurde. Aber er wollte den Krankenwagen nicht rufen, wenn er es vermeiden konnte. Er hatte so eine Vorahnung, daß sie, wenn sie ins Krankenhaus käme, es nie wieder lebend verlassen würde. Und was würde dann übrigbleiben? Dennis, Jake und Kevin? Der Gedanke an diese Möglichkeit ließ ihn erschaudern.
     
    Millie überlebte die Nacht. Als Kevin am nächsten Morgen aus der Dachkammer nach unten kam, fand er sie vor, wie sie sich durch die Küche schleppte und sich über ihren Rücken beklagte. Sie hatte anscheinend keine Erinnerung daran, was in der Nacht zuvor passiert war. Schweigend, als wäre er in Trauer, aß Kevin seine Cornflakes und Toast und ging zur Schule.
     
    Im Geschichtsunterricht beschäftigte sich Mr. Graham mit irgendwelchem Cowboyund‐Indianer‐Kram und der Besiedelung des amerikanischen Westens. In den ersten fünfzehn Minuten paßte Kevin nicht sonderlich auf. Er war zu sehr damit beschäftigt, an Millie und an Bruce zu denken. Er scherte sich einen Dreck um die Central Pacific Eisenbahn oder darum, wie viel chinesische Kulis dabei gestorben waren, als sie sich mit Hammer und Meißel durch die High Sierra gebuddelt hatten. Und soweit es Kevin betraf, hatte General Custer bekommen, was er verdient hatte. Die Indianer und der Büffel, das waren die Guten.
    Aber dann begann Mr. Graham, von den Planwagen zu erzählen. Von Familien, die ihre Habe zusammenpackten und nach Westen zogen. Komplette Familien. Menschen. Einzelne Männer. In ihren Heimatstädten packten sie ihre Habe zusammen und nahmen Kurs auf die unendliche Wildnis. Keine nörgelnden Nachbarn mehr. Nur viel Platz und Freiheit unter dem weiten Himmel, um ganz man selbst zu sein.
    Plötzlich hörte Kevin genauso gespannt zu, wie er Bruce zugehört hatte, als der über den Kanal gesprochen hatte. Diese Planwagen – er hatte sie im Fernsehen gesehen – bekamen für ihn eine ganz eigene Bedeutung. Er stellte sie sich in einem langen Zug vor, wie sie dem Lauf von breiten Flüssen folgten, über das offene Grasland zogen, während wackere und aufrechte Männer hoch zu Pferde neben den Wagen ritten.
    Wer waren diese Menschen? Warum packten sie ihre Habe zusammen und zogen los? Was wollten sie? Mr. Graham hatte Antworten. Sie waren nach Kalifornien gezogen, um Gold oder Land zu finden oder um in der unberührten Weite der Berge Holz zu fällen, oder um riesige Flächen von Weideland zu finden oder um ein Vermögen in den Bergwerken zu machen. Mr. Graham hatte eine Fülle von Vorstellungen davon, worauf diese Pioniere aus gewesen waren, aber er hatte nicht viel darüber zu sagen, warum sie ihre Häuser und Familien verlassen hatten.
    «Ein Teil dieses Zuges nach Westen bestand aus ziemlich angesehenen Familien, die ihre Farmen im Osten verkauften und sich auf den Weg nach Westen machten, in der Hoffnung, dort bessere landwirtschaftliche Bedingungen vorzufinden», sagte Mr. Graham und fügte hinzu: «Andere, besonders einzelne Männer, waren Tunichtgute, Übeltäter und Außenseiter, die sich den Anforderungen einer im Grundsatz puritanischen Gesellschaft nicht anpassen konnten.» So klang es in Mr. Grahams trockener, eintöniger Stimme.
    Kevin sah sich verstohlen unter seinen Klassenkameraden um und stellte fest, daß diejenigen, die überhaupt aufpaßten, größtenteils erleichtert waren, daß ihre Familien im Osten geblieben waren und keine «Tunichtgute, Übeltäter und Außenseiter» als Vorfahren hatten.
    Aber Kevins Gedanken waren nur mit sich selbst und Bruce beschäftigt, wie sie Seite an Seite hoch zu Pferde ritten und die Ärsche ihrer Pferde nach Osten gerichtet waren, als ob sie «einer im Grundsatz puritanischen Gesellschaft» sagen wollten: Verpiß dich! Diese Vorstellung gefiel ihm außerordentlich. In einer plötzlichen Eingebung fühlte er sich mit der verschwommenen Geschichte jener «Tunichtgute, Übeltäter und Außenseiter» verwandt, die über die Prärie der untergehenden Sonne entgegenritten. Ihm kam es so vor, als wüßte er um eine geheime Bedeutung in der

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