Jäger der Nacht
dir erzählt.»
«Wie kannst du mir so was sagen!»
«Willst du, daß ich gehe?»
«Ja.»
Als Kevin sich umdrehte und begann, die Straße runterzugehen, schluchzte er auf. Aber er war erst ein paar Schritte gegangen, als er eine Hand auf seiner Schulter fühlte. Er hielt an, stützte sich gegen die Hand und sah Bruce mit tränennassen Augen an.
Ganz allmählich begannen sie, zurück zum Gallatin House zu gehen. Keiner von ihnen sagte ein Wort, während sie an einigen Wohnblocks vorbeigingen. Dann begann Bruce zu sprechen; seine Stimme war gefaßt, aber erschöpft. «Es war eine harte Woche. Tante Charlotte ist Montag gestorben.»
«Du meinst... die Dame, die wir am Sonntag besucht haben?»
«Ja.»
«Oh, das ist furchtbar. Ich wollte sie wiedersehen.»
«Zumindest hast du sie einmal gesehen», seufzte Bruce. «Danach gab es nur noch die Organisation der Beerdigung, die Verwandten, all das. Ich habe mich bis zur gestrigen Beerdigung zusammengerissen, aber ich glaube, es hat mich stärker getroffen, als ich wahrhaben wollte. Wie dem auch sei, letzte Nacht hatte ich zuviel Brandy getrunken...»
Kevin wußte nicht, warum er begann, sich ungemütlich zu fühlen.
«... und ich bin ausgegangen. Ich hätte nicht ausgehen sollen. Aber ich war einsam. Ich bin rüber zum Jefferson Square gegangen.»
«Warum hast du das gemacht?»
«Um was für die Nacht zu finden.»
Kevin spürte, wie die Wut in ihm immer kochender wurde.
«Nach dem letzten Wochenende... da mußtest du ausgehen und dir was für die Nacht suchen?»
«Ja.»
Kevin preßte seine Zähne und die Fäuste zusammen. Er dachte daran, Bruce eine runterzuhauen. Dann dachte er daran wegzulaufen. Doch er ging immer weiter.
Und Bruce erzählte. «Die Bullen haben ‘ne Razzia auf dem Platz gemacht. Sie haben mich geschnappt. Den größten Teil der letzten Nacht habe ich auf der Wache verbracht. Aber sie ließen uns gehen. Keine Presse. Noch mal gutgegangen. Ich bin müde.»
Bruce und Kevin saßen lange Zeit auf der Eingangstreppe des Gallatin House, ohne daß einer ein Wort sagte.
Schließlich sagte Bruce: «Wollen wir reingehen?»
«In Ordnung.»
Als sie in der Dunkelheit dicht beieinander im Bett lagen, sagte Bruce zu Kevin: «Ich glaub’, es ist höchste Eisenbahn, daß wir aus dieser Stadt rauskommen.»
«Das glaube ich auch.»
«Ein Freund von mir hat versucht, mich dazu zu bringen, einen Job in New York an zunehmen. Ich werde ihn wohl annehmen. Möchtest du mit mir kommen?»
«Ja», sagte Kevin. «Ja... ja... ja.»
Als sie dabei waren, Arm in Arm einzuschlafen, dachte Kevin über all diese «Tunichtgute, Übeltäter und Außenseiter» nach. Sie ritten nicht mehr über die Prärie. Sie fuhren mit der New Yorker U‐Bahn.
Kevins Schlaf war unruhig. Bilder von einer fantastischen Wolkenkratzerlandschaft schossen ihm immer wieder durch den Kopf. Er stellte sich Greenwich Village als eine Art Disneyland für Tunten vor und malte sich in den kräftigsten Farben wahnsinnige Ausschweifungen am Hafen aus. New York, da war er sich sicher, war der Ort, an dem alles möglich war. Einige der anderen Stricher in der Hafenstraße waren da gewesen, und sie hatten ihm Geschichten darüber erzählt. Nun ging er mit Bruce dorthin. Um zu leben.
Vielleicht.
Oder vielleicht würde Bruce am Morgen aufwachen und beschließen, daß es doch nicht so eine gute Idee wäre, und alles würde damit enden, daß Max und Arnie ihn an eine Bande von Puertoricanern verkaufen würden. An sich glaubte er, daß diese Drohung erstunken und erlogen war, aber es gab immerhin die winzige Möglichkeit, daß Max und Arnie es doch tun könnten. Bruce... New York... das war die Zuflucht.
Er stützte sich mit einem Ellbogen ab und sah im dämmerigen Licht, das von den Fenstern kam, auf Bruces Gestalt neben sich. Schwerwiegende Gedanken kämpften in seinem Kopf. Es konnte nicht einfach nur eine Zuflucht sein, so wie die Crimmins eine Zuflucht gewesen waren, so wie Millie und Jake eigentlich eine Zuflucht hätten sein sollen. Niemand würde Bruce dafür bezahlen, daß er ihn bei sich behielt, so wie man die Crimmins als Pflegeeltern bezahlt hatte. Niemand im Sozialamt würde seine Zustimmung dazu geben, daß er bei einem stockschwulen ‹Vater› wohnte. Zwischen ihm und Bruce gab es keine Blutsverbindung. Also was war er dann für Bruce? Und was war Bruce für ihn?
Selbst wenn sie nach New York fahren und sich dort niederlassen würden, was sollte Bruce davon abhalten, dieses
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