Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jäger der Nacht

Jäger der Nacht

Titel: Jäger der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wallace Hamilton
Vom Netzwerk:
ersten Mal in seinem Leben war er dabei, für ein anderes menschliches Wesen die Verantwortung zu übernehmen.
    Heterosexuelle schienen sich damit, zumindest oberflächlich betrachtet, so leicht zu tun. Geldanleger hatten Bruce am Schreibtisch gegenüber gesessen, während er umfangreiche Pfandbriefanlagen aufgestellt hatte «um die Kinder abzusichern», obwohl deshalb auf den einen oder anderen kleinen Luxus im Rentenalter verzichtet werden mußte. Bruce hatte dieser Selbstverleugnung immer etwas herablassend gegenüber gestanden – der Preis des ‹Normalseins›. Aber ihm war klar, daß er nicht länger herablassend sein könnte, wenn er diesen offiziellen Schritt erst einmal vollzogen hätte. Er würde sein eigenes Kind haben, das es zu versorgen galt.
    Er ließ die Erinnerung an seine eigene Kindheit an sich vorüberziehen und dachte daran, wie er die Verantwortung seiner Eltern für ihn als etwas so Selbstverständliches vorausgesetzt hatte wie die Luft, die er atmete, und wie er seine kleinen Aufstände inszeniert hatte, um die Standhaftigkeit dieser Grundlage auf die Probe zu stellen. Würde Kevin anfangen, ihn auf die Probe zu stellen? Und würde er, der er es plötzlich mit einem Jugendlichen zu tun hatte, die Standhaftigkeit haben, diese Probe zu bestehen? Kevin war ein ganz schön cleverer junger Mann und durchaus in der Lage, Katz und Maus zu spielen.
    Aber er hatte seine Eltern als etwas Selbstverständliches hingenommen. Kevin hatte dazu kaum die Gelegenheit gehabt, und sein wachsendes Bewußtsein seines eigenen Schwulseins – umso vieles reifer, als Bruce es von sich selbst in Erinnerung hatte – ließ alle Brücken hinter ihm zusammenbrechen. Kevin war so allein wie nie zuvor und schien nach einer Bindung zu hungern, und er beanspruchte dieses Bedürfnis von Bruce auf alle mögliche Art und Weise, wie es nur ein Jugendlicher kann. Würde Kevins Heimatlosigkeit den Unterschied machen?
    Es war ihm nicht möglich, das in Erfahrung zu bringen. Und was das schwule Element ihrer Beziehung anbelangte, fielen ihm keine Regeln, Gebräuche und Traditionen ein. Ihm fielen lediglich Kaiser Hadrian und der junge Antinous ein, und dieser Vergleich schien nicht ganz auf seine Lage zu passen. Ihm war kein Präzedenzfall für seinen offiziellen Schritt bekannt.
    Er wußte, daß der Umzug nach New York kein Allheilmittel war. Ein neuer Anfang, ja, in einem breiteren Spektrum schwulen Lebens. Aber Schwulenticker gingen ihrem Gewerbe im Central Park mit genau derselben Boshaftigkeit nach wie im Greystone Park und mit genau derselben elterlichen Billigung. Kevin würde immer noch Schwierigkeiten mit seinem Anderssein haben, und Bruce würde sich bei der Arbeit auch weiterhin bedeckt halten müssen. Sowohl Bruce als auch Kevin würden dieselben Menschen in derselben Gesellschaft sein, wenn ihnen auch die weltoffene Bevölkerung etwas mehr Luft zum Atmen ließ. Der größte Teil New Yorks bestand aus Minderheiten, und die mußten irgendwie miteinander auskommen. Chuck Ryerson hatte gesagt, in dem Versuch, Bruce den Job schmackhaft zu machen: «Zum Teufel, Mann, hier sind wir alle Puertoricaner.» Und Bruce McIntosh Andrews der Dritte zog es vor, diesem Gedanken was abzugewinnen.
    Dennoch, Bruce war dabei, sich auf das Ungewisse einzulassen. Aber er sollte verflucht sein, wenn er seine privaten Ängste mit Gerald teilen würde.
    «Mr. Sanderson ist jetzt für Sie zu sprechen», sagte die Empfangsdame. Bruce ging den Flur entlang zu Geralds Büro. Gerald begrüßte ihn an der Tür mit einem männlichen Handschlag und einer Wie‐geht’s‐alter‐Knabe‐Stimme, zeigte auf einen Sessel und schloß die Bürotür hinter ihnen. Der schwere Teppich und die Vorhänge verliehen dem Raum eine Grabesstille, machten ihn zu einem Ort für Verschwörungen im Flüsterton.
    Aber Geralds Stimme klang ganz normal, mit nur einem ganz kleinen, aufgesetzten Trällern. «Man sollte annehmen, daß unser Pfadfinder‐Kommissar was Besseres zu tun hätte mit seinen Truppen, als Leute am Jefferson Square aus dem Gebüsch zu jagen.»
    «Du weißt davon?»
    «Ich lese Zeitung. Das muß ganz schön aufregend für dich gewesen sein.»
    «Mein Name stand nicht in der Zeitung.»
    «Ja, ich weiß. Aber ein Freund von George, Jack Welton, ist in derselben Razzia aufgegriffen worden. Er hat dich auf der Wache erkannt.»
    Bruce und Geralds Blick kreuzten sich. Bruce hatte das Gefühl, vor einem Richter zu stehen. «Ich war nicht ganz bei Sinnen.

Weitere Kostenlose Bücher