Jäger der Schatten
York war viel zu kurz gewesen, hatte viel zu spät begonnen. Sie hatte ihre wahren Gefühle für ihn erst ganz am Ende entdeckt und jetzt war er fort. Eine Welle des Kummers stieg in ihr hoch, doch sie schob sie beiseite. Sie hatte keine Zeit, sich selbst zu bedauern.
Sie war froh, dass Sam und Ted das Ganze nie zur Sprache brachte n – dafür waren die Brüder viel zu taktvoll. Sie hatten Mimi gebeten, sie im Hauptsitz der Venatoren zu treffe n – in einem ehemaligen Mietshaus in West Village. Es waren nur noch drei Tage, bis der Mond wieder zunehmen würde und Mimi wurde langsam nervös. Die Venatoren gaben ihr Bestes, doch bis jetzt waren sie noch keinen Schritt vorangekommen. Sie hätten schon längst einen Verdächtigen haben müssen, einen Anhaltspunkt, irgendetwas. Sie waren Blue Blood s – Hüter historischer Geheimnisse, Vampire, die die Wahrheit über die Welt wusste n –, sie waren keine Opfer von Drohungen.
Mimi ging durch das Tor und steckte ihren Finger in den Blutsensor neben der Eingangstür. Die schäbige Inneneinrichtung stellte den kompletten Gegensatz zu der glänzenden Vollkommenheit des Force Towers dar. Sie verzog den Mund beim Anblick des verstaubten Treppengeländers, der kaputten Stufen und der abgeblätterten Tapete. Die Venatoren hatten dieses Haus im neunzehnten Jahrhundert bezogen und es sah noch immer genauso aus wie damals. Sie erinnerte sich an einen Besuch während ihrer Anfangszeit als Venatorin, als jeder aus der Gemeinschaft hierherbestellt und über Maggie Stanfords Verschwinden befragt worden war.
»Hier oben!«, rief eine heitere Stimme. Ted stand am Treppenabsatz und winkte. »Der Fahrstuhl ist kaputt!«
»Natürlich«, murmelte Mimi.
In der ersten und zweiten Etage befanden sich die Schlafräume. Seit die Venatoren so viel unterwegs waren, stellte ihnen das Komitee eine Unterkunft zur Verfügung. Viele der Zimmer waren leer. Wer als Venator der Vampirgemeinschaft dienen wollte, musste über ein außergewöhnliches Maß an Tapferkeit, Ehre und Treue verfügen und sich für mindestens fünfzig Lebenszyklen verpflichten. Doch obwohl der Ältestenrat die Zulassungsvoraussetzungen gelockert hatte, damit mehr Vampire beitreten konnten, waren ihre Reihen noch immer zu dünn besetzt.
Nur sehr wenige Blue Bloods wollten in diesen Zeiten Venator werden. Wie Cordelia van Alen es vorausgesagt hatte, waren die meisten Vampire damit zufrieden, ihr Leben kaum privilegierter als die Red Bloods zu verbringen: Sie waren Menschen mit einem Hauch von Unsterblichkeit, hatten etwas mehr Geld und nicht allzu viel Verantwortung. Warum konnte sie Cordelia nicht aus ihrem Kopf verbannen, fragte sich Mimi. Wie war es möglich, dass Cordelia van Alen, eine Angstmacherin und Verschwörungstheoretikerin, die aus dem Ältestenrat ausgeschlossen worden war, alles vorausgesehen hatte, während ihr Vater, Charles Force, der die Vampire von Anfang an geführt hatte, so blind gewesen war?
Ted brachte Mimi in das Büro, das er mit seinem Bruder teilte. Es war ein enger Raum, in dem sich die Bücher stapelten und altmodische Ausrüstungsgegenstände der Polizei herumlagen, die die Brüder über Jahre hinweg gesammelt hatten: Stempelkissen zum Abnehmen von Fingerabdrücken, sowie Lügendetektoren, vergilbte Beweisanhänger, kaputte Ferngläser. Besonders Ted hatte eine Vorliebe für die originellen Einfälle der Red Bloods, wenn es um die Vollstreckung von Gesetzen ging. Venatoren hatten für solche Dinge keine Verwendung, weil der größte Teil ihrer Arbeit in der Schattenwelt der Gedankenkontrolle stattfand.
Doch in einem Punkt ähnelte ihre Vorgehensweise der menschlichen Polizeiarbeit. An der Wand hingen die Fotos von allen Personen, die auf Jamie Kips Party gewesen waren, sortiert nach Blutstatus und Stellung: BB, RB, VER, CON. Mimi schielte zu den Bildern hinüber. Direkt in der Mitte hing ein Foto von ihr. Bedeutete das, dass sie auch verdächtigt wurde, fragte sie sich. Sie hatte Victoria kaum gekannt, obwohl sie demselben auserlesenen Freundeskreis angehört hatte.
»Also, was gibt’s?«, erkundigte sie sich. Sie lehnte sich an den unordentlichen Schreibtisch, auf dem sich die Akten bis zu ihrer Taille stapelten. Sie griff nach einem Paar Handschellen und spielte daran herum.
Sam drehte ihr seinen Stuhl zu und sah sie an. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen. Mimi erinnerte sich daran, dass Sam derjenige von den Brüdern war, der die Aufgaben ernster nahm, und offensichtlich hinterließ
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