Jäger in der Nacht: Kriminalroman (German Edition)
können.
Warum hatten die Ettingers die Polizei nicht informiert?
Schemenhaft schälte sich das Haus aus dem grauen Morgenlicht. Erneut rief sie an, klingelte. Der Hund bellte, im Ort antworteten zwei, drei weitere Hunde.
Drei Gründe, dachte sie, weshalb Nadine nicht mehr in der Scheune gewesen war. Der dritte: Die Ettingers hatten sie gefunden und hierhergebracht. Wir müssen die Polizei holen, hatten sie gesagt. Nein, hatte Nadine geflüstert. Aber warum denn nicht, Kind?
Ja, warum nicht?
Wenn die Ettingers einen Grund dafür gehabt hätten, dann hätte Josepha Ettinger nicht gesagt, was sie gesagt hatte. Und wenn Sie ihn hätten, blieben immer noch die anderen. Sie wissen doch nicht einmal, wo Sie suchen müssen, richtig? Wen Sie suchen müssen.
Die anderen. Gab es mehrere? Kannte Nadine einen von ihnen?
War das der Grund?
Sie legte die Hände an die Torstangen, stellte einen Fuß auf eine Querstrebe, zog sich hoch. Die Flügel bewegten sich, irgendetwas klirrte. Der Hund bellte wie rasend.
Die nächste Querstrebe, wieder ein Stück höher. Mit einer Hand umfasste sie eine der Stangenspitzen. Einen Fuß drüberheben, auf der anderen Seite abstellen, dann hatte sie es schon geschafft. Sie sprang auf den Boden.
Jetzt sah sie das Tier. Ein ausgewachsener Schäferhund, der links vor dem Haus vor einer Hundehütte angebunden war. Er sprang nach vorn, stand auf den Hinterbeinen. Während sie auf das Haus zuging, zog sie die Waffe aus der Handtasche. Im Sommer 2003 hatte sie ein Hund angegriffen, im letzten Moment war sie ins Auto geflohen. Wie damals gebleckte Zähne, geweitete Augen, Gebell und dieses tiefe, drohende Knurren, das ihr mehr Angst machte als jedes Bellen.
Aber die Kette hielt.
Hinter den Fenstern noch immer kein Licht, kein Hinweis darauf, dass irgendjemand da war. In einem großen Bogen näherte sie sich dem Haus von der Seite. Zur Tür konnte sie nicht. Davor stand der Hund.
Keine gekippten Fenster, kein Balkon, die Küchentür auf der Rückseite zugesperrt. Sie nahm die Waffe am Lauf. Zu allem anderen kamen nun Sachbeschädigung und Einbruch. Einen Moment lang fragte sie sich, warum sie all das tat. Warum sie ihre Karriere riskierte, das Leben, das sie führte, ein Leben für diesen Beruf, der sie erfüllte wie sonst nichts, auch wenn sie ihn bisweilen hasste. Warum setzte sie alle Jahre wieder alles aufs Spiel? Sie hatte doch nichts anderes.
Sie sagte sich, dass sie es für Nadine tat. Für Menschen wie sie. Einer musste es doch tun.
Aber das stimmte natürlich nicht. Niemand musste etwas tun. Warum also?
Sie schlug zu. Glas splitterte, das Gebell wurde höher und immer hysterischer. Ein dumpfes Poltern, als würde sich der Hund auf der anderen Seite des Hauses gegen die Tür werfen.
Dann stand sie in der Küche. Steinboden, weißes Holz, im Schein der Taschenlampe leuchtete Emaille. Sie rief nach Josepha Ettinger, erhielt keine Antwort.
Ohne das Licht einzuschalten, ging sie weiter. Ein schmaler, langer Flur mit einer Treppe nach oben, es roch nach feuchtem Holz, nach Blumen. Ein kleines WC, ein Wohnzimmer, von dem ein Esszimmer abging, überall Steinboden, dunkles, altes Holz, im Wohnzimmer ein dunkelbrauner Teppich, cremefarben bezogene Polstermöbel, zahlreiche Bücher, Vasen mit Blumen, ein Sideboard, eine Standuhr, die übermäßig laut tickte. Der Lichtschein glitt über gerahmte Schwarzweißfotos von vier Mädchen. Die Ähnlichkeit war nicht zu übersehen. Vier Schwestern.
Als sie zur Treppe zurückkehrte, krachte neben ihr etwas gegen die Haustür. Erschrocken blieb sie stehen. Zwei, drei Zentimeter Holz trennten sie von dem rasenden Hund. Lautlos schob sie die Sicherheitskette in die Metallschiene an der Tür.
Die Treppenstufen knarzten.
Oben ein Bad, ein Schlafzimmer, beides aufgeräumt und leer. Das Doppelbett war gemacht, eine Tagesdecke lag darüber.
Sie folgte dem Flur zu einer geschlossenen Tür. Schon bevor sie sie öffnete, nahm sie den scharfen Geruch von Jodsalbe wahr und wusste, was sie erwartete.
Der Raum lag im Dunkeln, die Fensterläden waren geschlossen. Sie tastete nach dem Lichtschalter. Ein weiteres Schlafzimmer, das Bett zerwühlt, auf dem Laken Spuren von getrocknetem Blut. Auf einem Nachttisch neben dem Bett lag eingeschweißtes Verbandszeug, in einer Ecke zusammengefaltet eine rote Decke.
Einen Kilometer hinter Grezhausen hielt sie am Straßenrand. Die Sonne war noch nicht zu sehen, aber es war hell geworden. Rechter Hand die Möhlin, vor ihr
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