Jäger in der Nacht: Kriminalroman (German Edition)
Almenbroich wohnte in Ehrenkirchen, südlich von Freiburg. Viele neue Häuser, viele Familien, viel Grün, nachts war es vermutlich sehr still. Sie hatte Glück gehabt, dass er zu Hause gewesen war, eine halbe Stunde später wäre er zu seinem täglichen Spaziergang aufgebrochen. Hinauf auf die Weinberge, an der Ölbergkapelle oder zwischen den Rebstöcken auf Bänken sitzen, den Blick auf den Schwarzwald gerichtet. Noch immer, hatte er gesagt, ließ er Tag für Tag Revue passieren, was damals geschehen war, warum er sich so und nicht anders entschieden hatte.
»Wenn die Ettingers etwas zu verbergen hätten, hätte sich Josepha anders verhalten«, sagte sie.
Almenbroich antwortete nicht.
Sie wandte sich zu ihm um. »Vielleicht möchte Nadine nicht, dass wir informiert werden.«
»Worauf wollen Sie hinaus?«
Sie musterte ihn. Er sah kurz auf, betrachtete dann wieder sein Ei. Eigelb floss über die Schale, den Becher, die Finger, mit denen er ihn hielt. Er legte den Löffel zur Seite, wischte die Finger mit einer Serviette sauber. »Manchmal hindert die Scham ein Vergewaltigungsopfer daran, uns zu informieren.«
»Ja«, sagte sie.
Er schaute sie an. »Ein reiches, unschuldiges, naives Mädchen, das das Leben bislang nur von den schönen und bequemen Seiten kennengelernt hat. Dann passiert … so etwas. Das Mädchen schämt sich. Glaubt, es wäre in irgendeiner Form verantwortlich. Wie soll es den Eltern von dieser Schande erzählen? Da würde die heile Familienwelt zusammenbrechen. Alles schon vorgekommen.« Er räusperte sich. »Aber Sie denken an etwas anderes.«
»Ja.«
»Sagen Sie es nicht. Die wenigen Illusionen, die ich noch habe, möchte ich mir bewahren, während ich Quitten einkoche.«
Louise setzte sich wieder. »Sie kennt die Identität von einem der Täter.«
»Falls es tatsächlich mehrere waren.«
»Davon müssen wir ausgehen.«
»Falls Sie das, was Josepha Ettinger gesagt hat, richtig interpretieren. Finden Sie nicht, dass Sie dem ein wenig viel Bedeutung beimessen?« Er stand auf. »Begleiten Sie mich ein paar Schritte? Es ist sehr schön da oben auf den Hängen.«
Sie schüttelte den Kopf. Sie musste in die PD.
Almenbroich verschwand im Wohnzimmer. Wenig später kam er in Schuhen und Sakko zurück.
Sie machte keine Anstalten aufzustehen. »Ich muss es loswerden.«
»Wollen Sie ein wenig Gelee mitnehmen?«
»Ich …«
Almenbroich unterbrach sie. » Nein . Nicht in diesem Haus. Nicht in meiner Gegenwart. Ich will es nicht hören. Respektieren Sie das.« Seine Augen waren schmal, die Wangen angespannt. Da war sie wieder, die Strenge, die sie so gefürchtet und geschätzt hatte.
Er begleitete sie zu ihrem Wagen.
»Rolf soll Staatsanwalt Hennemann anrufen.« Almenbroich deutete in Richtung Weinberge. Er werde, sagte er, von einer seiner Bänke aus telefonieren. Einen kleinen Plausch über das Leben vor und nach der Pensionierung führen. Eine Einladung zu einem Glas Rotwein aussprechen. Eine Bitte äußern. Er lächelte. In seinen Augen glomm jetzt so etwas wie Leben, und das graue, hohläugige, hohlwangige Gesicht war leicht gerötet.
Wie schon einmal – damals, vor zwei Jahren – empfand sie plötzlich das Bedürfnis, ihm die Hand auf die Wange zu legen. Verwitwete, gescheiterte ehemalige Kripoleiter brauchten Wärme und Trost.
Sein Gesicht war kalt, die Haut fühlte sich unangenehm weich an.
»Wird Ihnen ja fast schon zur Gewohnheit«, sagte er und wirkte für einen Moment sehr zufrieden.
»Warten Sie noch mit Hennemann. Ich muss nachdenken.«
Er musterte sie lange, ohne etwas zu sagen.
Sie stieg ein.
»Ich weiß nicht, ob Sie mich vorhin verstanden haben, Louise.« Er legte die Hände an den Türrahmen. »Sprechen Sie nirgendwo darüber. Mit niemandem. Niemand darf erfahren, was Ihnen durch den Kopf geht. Wenn es die Runde macht, sind Sie in der PD Freiburg für alle Zeiten erledigt.«
»Dann helfe ich Ihnen beim Quitteneinkochen.«
»Ich will Ihre Hilfe nicht. Ich will, dass Sie dabeibleiben. Sie sind doch das, was ich hinterlassen habe. Das wenige Gute.« Er lächelte streng. »Nun ja, schon richtig, manchmal nimmt das Gute seltsame Formen an.«
Sie lächelte, um sich nicht anmerken zu lassen, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. Der liebe, alte Almenbroich.
Er trat einen Schritt zurück. »Und falls Sie recht haben …« Ohne den Satz zu beenden, wandte er sich um und ging davon.
Sie sah ihm nach. Ein kleiner, krummer, alter Mann auf den Straßen von
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