Jäger in der Nacht: Kriminalroman (German Edition)
verließ den Raum. Sie musste ein paar Minuten lang nachdenken. Inmitten der Kollegen, die sie belogen hatte, konnte sie nicht nachdenken.
Sie ging zur Toilette, betrat eine Kabine mit Fenster, öffnete es. Die Sonne war aufgegangen, die Stadt lag glitzernd im Sommerlicht.
Sie dachte, dass das, was sie tat, anmaßend und unverantwortlich war.
Aber sie war davon überzeugt, dass sie richtig handelte. Dass viele Kollegen ähnlich handeln würden, wenn sie mit Josepha Ettinger und der alten Frau in dem rosafarbenen Morgenmantel gesprochen hätten.
Auf dem Rückweg zum Soko-Raum wurde ihr bewusst, dass sie Unterstützung benötigte. Jemand musste nach Nadine und den Ettingers suchen, wenn sie mit anderem beschäftigt war. Jemand, der weder Nadine noch die Ettingers verschrecken würde, falls er sie fand.
Und sie brauchte Unterstützung im Haus. Jemand musste in der Direktion die Augen offenhalten. Jemand, der an der Quelle saß und dem sie vertraute.
Sie öffnete die Tür. Ihr Blick fiel auf Alfons Hoffmann, der ein Schokocroissant in der einen Hand hielt, mit der anderen Teigkrümel von seinem voluminösen Bauch schnippte und dabei sehr zufrieden aussah.
Sie kehrte zu ihrem Platz zurück, setzte sich. Alfons Hoffmann, verheiratet mit einem Drachen aus Niederbayern, kam meistens als Erster, ging meistens als Letzter, süchtig nach Schokolade, nach Anerkennung, ein dicker, einsamer Mann, der nur noch über Fallakten und das Internet am Leben draußen teilnahm. Im Traum kamen die Mädchen, dann wachte Alfons Hoffmann auf und ging zum Kühlschrank und aß Schokolade, aber die Mädchen blieben in seinem Kopf, und eines Nachts ging er nicht zum Kühlschrank, sondern zog sich an und stieg in seinen Wagen und …
»Mal beißen?«, flüsterte Alfons Hoffmann.
»Ist nicht dein Ernst …«
Alfons Hoffmann saß in seinem multifunktionalen Spezialbürostuhl, der jeglichen Rücken- und sonstigen Knochen- und Muskelleiden vorbeugen sollte, und starrte sie an.
Sie zuckte die Achseln. »Bin ich paranoid?«
»Irgendwie schon.«
»Aber du hilfst mir?«
»Du meine Güte. Muss erst mal meine Pflanzen gießen.« Er rollte im Stuhl zum Waschbecken, füllte eine Gießkanne, rollte weiter zu dem grünen Urwald in einer Ecke seines Büros, begann zu wässern. Sie hörte ihn vor sich hin brummeln, ohne einzelne Wörter zu verstehen. Ein Seufzer, noch ein Seufzer, während sein Leib in sich zusammensank. Das Leben meinte es nicht gut mit Alfons Hoffmann. Stellte ihn vor solche Entscheidungen.
»Alfons, ich muss zur Vernehmung.«
»Ja, ja, bin gleich fertig.« Er rollte zurück. »Sprich mit Graeve. Er muss es absegnen.«
Sie stöhnte. Etwas Ähnliches hatte sie erwartet. »Na gut. Später.«
»Wann später?«
»Heute Nachmittag. Lass uns erst mal abwarten, was Holzner sagt.«
Alfons Hoffmann nickte. »Was brauchst du?«
Sie brauchte alles, was sich über Maria und Josepha Ettinger herausfinden ließ. Ansatzpunkte waren die Immobilien in München, die Verbindung zu den Zisterzienserinnen. Hatten sie dem Orden einmal angehört? Hatten sie Verwandte oder Bekannte unter den Nonnen? Gab es weiteren Besitz? Eine Hütte im Schwarzwald, ein Ferienhaus in Frankreich? Alles, was ihnen einen Hinweis darauf liefern konnte, wo die Ettingers Nadine hingebracht hatten.
»Ihre Vergangenheit?«
Almenbroichs Rat fiel ihr ein. Sie nickte. »Aber niemand darf es mitbekommen. Niemand. «
»Meiner Yucca werde ich es erzählen. Vielleicht dem Ableger der Schwiegermutter.«
»Alfons.«
»Schon kapiert. Und du redest mit Graeve.«
»Versprochen.«
»Was du sonst noch tust, will ich nicht wissen. Wenn du wieder irgendwo einsteigst und so.«
»Verstehe.«
»Weißt du, warum ich dir helfe?«
»Weil du ein guter Bulle bist.«
»Ich bin zwei gute Bullen.« Alfons Hoffmann klopfte sich auf den umfangreichen Leib. »Weil du mich gefragt hast, nicht Illi oder Rolf oder sonst jemanden. Du vertraust mir.«
»Ja.«
Er grinste zufrieden. »Jetzt sag Danke und lass mich anfangen.«
Holzner und Richard C. Müller. Bermann, Bruckner, Meirich. Im Hintergrund eine Sekretärin vor einem Laptop, aber sie schrieb nicht. Niemand sagte etwas.
Louise schloss die Tür. An Richard C. Müllers gerötetem Gesicht und Bermanns starrer Miene konnte sie ablesen, was eben geschehen war. Bermann hatte die Beschuldigung um Mordverdacht erweitert. Müller hatte sich empört.
Holzner saß reglos auf demselben Stuhl wie am Vortag. Er war unrasiert, wirkte müde. Mit
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