Jäger in der Nacht: Kriminalroman (German Edition)
Schule. Aber heute Morgen …« Brigitte Haberle senkte den Kopf. »Ich kann nicht Auto fahren.«
Wieder herrschte Schweigen.
»Ich muss Auto fahren lernen«, sagte Brigitte Haberle. »Ich muss jetzt vieles lernen. Ich weiß nicht, ob ich das kann.«
Louise beugte sich vor, legte ihr die Hand an den Arm. Brigitte Haberle lächelte verlegen. Plötzlich schimmerten wieder Tränen in ihren Augen.
»Hat er Emily auch abgeholt?«, fragte Bermann.
Brigitte Haberle schneuzte sich. »Ja, natürlich.«
»Jeden Tag?«
»Ja. Von der Schule, vom Schwimmen, vom Ballett. Wir wohnen ja sehr abgeschieden.«
Louise warf einen Blick auf das Fenster hinter Emily. Ein paar Nachbarhäuser waren zu sehen, ein Stück weiter ein Kirchturm. Busse fuhren nach Horben. Abgeschieden war etwas anderes.
»Er hat sie überall hingebracht und auch wieder abgeholt?«, fragte Bermann.
Brigitte Haberle nickte. Für einen Moment hatte Louise den Eindruck, dass sie sich schämte. »Der Bus …«, sagte sie entschuldigend. »Es könnte etwas passieren. Er wollte nicht, dass sie Bus fährt. Wir wollten es nicht.«
»Und das ging? Er hatte doch Patienten«, sagte Bermann.
Brigitte Haberle zuckte die Achseln. »Es gab keine Probleme. Er hat es gern getan. Es war ihm wichtig. Er wollte ein … ein guter Vater sein.«
»War er das?«, fragte Louise.
»Ja. Natürlich. Der beste, den sich ein Kind wünschen kann.«
Erneut legte sich Schweigen über das weiße Zimmer. Brigitte Haberle wandte sich dem Esstisch zu.
Emily war fort.
Brigitte Haberle war hinaufgegangen, um nach Emily zu sehen. Louise hörte ihre Schritte auf der Treppe, eine Tür wurde geschlossen. Zum ersten Mal, seit sie in diesem Haus waren, dachte sie an Dietmar Haberles Leiche. An das sanfte, erschrockene Papagesicht, den zerstochenen Oberkörper. Sie stellte sich vor, wie die drei hier beieinander gesessen hatten, in diesem weißen Gefängnis aus Unselbständigkeit, Abhängigkeit, Kontrolle. Dann stand der Vater auf und brachte die Tochter in die Schule, zum Schwimmen, zum Ballettunterricht, später holte er sie wieder ab. Der beste Vater, den ein Kind sich wünschen konnte. Ein Kind, das schweigend an einem Tisch saß und malte, in seiner eigenen Welt lebte, da war und doch nicht da war, lautlos verschwand. Das Angst vor Männern hatte.
Drei Menschen mit einem unaussprechlichen Geheimnis.
Bermann ging zum Esstisch und nahm Emilys Bild in die Hand. »Sie hat Angst vor mir.«
»Ja.«
»Du weißt, was hier gelaufen ist.«
»Ich denke schon.«
»Ein Glück, dass das Schwein tot ist.«
Louise sagte nichts.
»Wir schalten das Jugendamt ein.«
»Nicht gleich, Rolf. Nimm ihr jetzt nicht die Mutter weg.«
»Die Mutter hat es geschehen lassen. Vielleicht mitgemacht.«
»Das wissen wir nicht.«
Bermann legte das Bild zurück. »Das wissen wir.«
»Wir schicken Katrin her. Sie soll sich um die beiden kümmern. Alles Weitere …« Sie ließ den Satz unvollendet.
»Wer ist das jetzt wieder?«
Katrin Rein, Dozentin an der Akademie der Polizei, Therapeutin a.D. von Louise Bonì und deren Kripokollegen Günter, der sich eingeredet hatte, an Darmkrebs erkrankt zu sein, dann war es doch nur eine billige, blöde Angstneurose gewesen. Für Polizistinnen von ihrem Schlag war Katrin Rein zu jung und unerfahren. Aber sie war unter anderem auf Kindesmissbrauch spezialisiert.
»Die Hübsche von der Akademie mit den tollen Titten, Rolf.«
Bermann schnaubte durch die Nase. »Ach, die Psychotante.« Ein flüchtiges Grinsen. An die Titten erinnerte er sich.
Louise stand auf. Jenseits des Fensters hinter dem Sofa lag ein gepflegter kleiner Garten. Der Rasen gemäht, die Hecken gestutzt, das Unkraut aus den Beeten gezupft. Menschen wie Dietmar Haberle brauchten perfekte Fassaden, um zu verbergen, was sie taten. Vor den anderen, vor sich selbst.
Wenn es so gewesen war, wie sie vermuteten.
»Holzner und der Mörder und Haberle«, sagte Bermann am anderen Ende des Raumes.
Sie sagte nichts. Dietmar Haberle war möglicherweise von demselben Täter umgebracht worden wie Eddie. Einem, der keine Hemmungen kannte, der Spaß am Quälen hatte, Spaß am Töten. Falls das so war, und falls Dietmar Haberle seine Tochter misshandelt hatte, lag der Gedanke nahe, dass er zu denen gehörte, die Nadine misshandelt hatten.
»Nicht Holzner, Rolf. Ein anderer.«
»Und warum hat Holzner dann gelogen?«
Die entscheidende Frage.
Aber hatte Holzner wirklich gelogen?
Brigitte Haberle kam zurück. Alles in
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