Jäger in der Nacht: Kriminalroman (German Edition)
Louise schätzte sie auf elf. Ein brünetter, auffallend dünner, scheuer Engel. Strumpfhose, Sweatshirt, Haarklammer in Rosa, das Kind der einzige Farbtupfer im ganzen Raum.
Sie hatten »Hallo« gesagt. Emily hatte nicht aufgesehen.
Immer in Gedanken, hatte Brigitte Haberle gesagt.
Sie hatten den Toten beschrieben. Brigitte Haberle hatte lautlos zu weinen begonnen. Emily hatte nicht herübergeschaut, hatte nicht zugehört. Sie wusste es noch nicht.
Dann war Brigitte Haberle aufgestanden und nach oben gegangen.
»Wie ich so was hasse«, murmelte Bermann.
Louise nickte. Ihr Blick lag noch auf Emily, und sie sah, dass die Hand mit dem Bleistift für einen kurzen Moment innehielt, als Bermann sprach. Dann malte sie weiter. Kein Laut, kein Räuspern, kein unwilliger Atemzug, kein Herumrutschen. Wenn Louise ihr den Rücken zugewandt hätte, hätte sie Emilys Anwesenheit nicht wahrgenommen. Ein seltsames Kind, dachte sie. Ein Kind, das da war und zugleich nicht da war, eingeschlossen in eine eigene Welt und doch überaus wachsam.
Bermann stand auf und ging zu ihr. »Was malst du denn?«
Wieder hielt die Hand mit dem Bleistift inne. Auch diesmal sah Emily nicht auf.
»He, ein Pferd«, sagte Bermann sanft. »Hübsch. Meine Töchter haben echte Pferde. Islandponys. Mich mögen die nicht, die Islandponys. Die werfen mich immer ab.«
Rolf Bermann, zwischen vier und sechs Kinder, irgendwann hatte sie aufgehört zu zählen. Ein guter Bulle, ein guter Vater, soweit sie das beurteilen konnte. Ein Bulle allerdings, der wie Almenbroich nur bis zur Schleuse der Polizeidirektion denken konnte.
»Hast du auch ein Pferd?«
Keine Antwort. Die Hand mit dem Bleistift hing reglos über dem Papier. Emily hatte den Kopf kaum merklich eingezogen. Ihr Gesicht lag im Schatten, den Bermanns Körper warf.
»Hier oben bei euch kann man bestimmt gut reiten. Die ganzen Wiesen und Waldwege und so.« Bermann wartete noch einen Moment, dann wandte er sich ab und schaute Louise an. Er war blass geworden.
Die Hand senkte sich, Emily malte weiter.
Ein paar Minuten später kam Brigitte Haberle zurück. Die Tränen waren fortgewischt. Sie hatte sich umgezogen, trug jetzt statt des grauen Hauskleides einen braunen Rock und eine blaue Bluse. Sie saß auf einem Sessel, die Knie aneinander gepresst, wartete auf Fragen. Als nicht gleich Fragen kamen, sagte sie: »Jemand hat angerufen. Heute Nacht. Deswegen ist er noch mal weg.«
»Wann?«, fragte Louise.
»Um Mitternacht.«
Sie nickte. Um Mitternacht, da hatte sie vor Ben Liebermann und seinem Wächterhäuschen gestanden. Während Dietmar Haberle seinem Mörder entgegengefahren war, hatte sie von den Schatten gesprochen, die beim Nachdenken kamen, die Schatten der Toten und der Mörder. Im Katzental waren zur gleichen Zeit weitere Schatten unterwegs gewesen. Ein Mörder, ein Opfer.
»Und er ist nicht zurückgekommen.«
Brigitte Haberle schüttelte den Kopf.
Sie sprachen leise, damit Emily nichts hörte, die unverändert am Esstisch saß und malte. Bermann kämpfte sich aus dem Polster, rutschte nach vorn. »Wer hat angerufen?«
»Ein Freund, hat er gesagt.«
»Welcher Freund?«
»Er hat nur gesagt, ein Freund.« Brigitte Haberle lächelte unsicher.
»Hat er ein Handy bei sich?«
Brigitte Haberle nickte. »Es ist ausgeschaltet.«
»Hatte er viele Freunde?«, fragte Louise.
»Zwei, drei.«
»Wir brauchen eine Liste.«
»Ich kenne nur … nur Vornamen. Einmal war jemand hier und hat ihn abgeholt, vor ein paar Monaten. Das Auto war kaputt. Die anderen kenne ich nicht.« Wieder das unsichere Lächeln. Ich weiß, besagte das Lächeln, ich bin Ihnen keine Hilfe. Ich bin so dumm. Es tut mir leid.
Keine Tränen mehr, keine Trauer mehr, dachte Louise.
»Wie läuft die Praxis?«, fragte Bermann.
»Die Praxis? Oh, sehr gut, glaube ich.«
»Hatte Ihr Mann Schulden?«
»Schulden … Ich weiß nicht. Nein, ich glaube nicht. Vor ein paar Jahren hat er von seinem Vater eine Wohnung geerbt und verkauft. Schulden … Nur der Kredit für das Haus vielleicht. Aber warum …«
»Und die Praxis? Ausstattung, Geräte?«
»Ich weiß nicht. Über finanzielle Dinge haben wir nie gesprochen. Über Geld. Er wollte das alles von uns fernhalten. Die Alltagssorgen.«
Brigitte Haberle sah zu ihrer Tochter hinüber. Für ein paar Sekunden sagte niemand etwas.
»Warum ist sie eigentlich daheim?«, fragte Louise. »Müsste sie nicht in der Schule sein?«
»Er bringt … Er hat sie immer hingebracht. Zur
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