Jäger
Embryos von
Zwillingen haben bei ihrer Entwicklung eine gewisse Autonomie.
Aber genau dieselben Gene. Exakt dieselben.
In jenem katastrophalen achtzehnten Sommer unseres Lebens hatten
wir zum ersten und letzten Mal versucht, bei der Eroberung von
Mädchen gemeinschaftlich vorzugehen. Dabei hatten wir uns
eingeredet, es sei ja praktisch gar kein Vertrauensbruch, kein Fremdgehen, wenn ein Zwilling mit der Freundin des anderen
schlief. Wer im alten Spielchen der Evolution jeweils am Drücker
sei, könne bei eineiigen Zwillingen eigentlich gar keine Rolle
spielen. Wir waren eines Besseren belehrt worden. Und jetzt gab es
kein Zwillingspaar mehr.
»In Thuringia ist irgendwas, außerdem haben wir eine
Adresse in San José«, sagte ich. »Wollen wir
vorbeischauen und ein paar Türen öffnen?«
»Wozu?«
»Ich habe den Verdacht, dass sich mein Bruder einen letzten
Scherz mit mir erlaubt. Er hat mir gerade so viele Hinweise in die
Hand gegeben, mein Interesse zu wecken, und er wollte, dass ich in
seine Fußstapfen trete und ein Geheimnis aufdecke. Ich glaube,
wenn es mir gelingt, werde ich wissen, warum er umgebracht wurde, und
damit vielleicht mein eigenes Leben retten.«
Das klang nicht einmal für mich selbst besonders
überzeugend, doch wie sonst sollte ich ihr eine typische
Macho-Mutprobe zwischen einem toten und einem lebenden Zwilling
erklären?
»Vielleicht will er dich warnen, dir raten, dich von diesen
Orten fern zu halten.«
»Indem er mir eine Landkarte und einen Bund mit
Schlüsseln schickt?«
Sie packte das Steuer noch fester. »Hungrig?«, fragte
sie.
»Wie ein Wolf.«
»Sag mir, wo wir essen sollen. Und was«, sagte sie mit
einem Anflug von Spott in der Stimme. »Du bist der
Experte.«
Ich entschied mich für ein Denny’s. Wir waren so
oder so machtlos gegen eine Organisation, die sämtliche
Fastfood-Restaurants in Kalifornien kontrollieren konnte.
Lissa bestellte Gemüseeintopf mit Muscheln. Ich entschied
mich für ein Käseomelett mit Wurst. Alles war gut
durchgekocht und durchgebraten.
Kapitel 25
Thuringia, Kalifornien
Zweimal verpassten wir die Abfahrt. Ich studierte nochmals Robs
Karte und kam zu dem Schluss, dass Thuringia – falls es der
namenlose Punkt in dem roten Kreis war – zwischen zwei kleinen
Orten, Gillette Hot Springs und Cinnabar, liegen musste, abseits
eines stillgelegten Abschnitts des Highways, der jetzt nur noch als
Parallelstraße zur neuen Trasse und als Zufahrtsstraße
ins Hinterland diente. Doch alles, was wir östlich von Gillette
Hot Springs vorfanden, waren sanfte braune Hügel und verlassene
Restaurantgebäude mit einer halb verfallenen, grün und
weiß gestrichenen holländischen Windmühle.
Um nach dem Weg zu fragen, hielten wir in Cinnabar, das aus nicht
viel mehr als einer Tankstelle und einer Wohnwagenkolonie bestand.
Der Typ in der Tankstelle, ein sechzehnjähriger Junge mit langem
schwarzem Haar und einem zerrissenen LA RAMS T-Shirt, hatte noch nie
etwas von Thuringia gehört.
»Das hier ist das langweiligste Nest auf der ganzen
Welt«, vertraute er uns an, während er Benzin in den Toyota
pumpte. »Weit und breit nur alte Knacker. Sogar die Hunde sind
alt.«
Lissa war sichtlich genervt, enthielt sich jedoch eines
Kommentars, während ich vor mich hin fluchte und mit der Karte
herumfuchtelte.
Schließlich entschieden wir uns dafür, wieder
zurückzufahren und an dem verlassenen Restaurant zu halten. Auf
dem von Unkraut überwucherten Parkplatz angekommen, stieg ich
aus und spähte durch schmutzige, zersprungene Fenster in den
verwüsteten ehemaligen Speisesaal. Herausgerissene Theken und
überall Trümmer und Unrat auf dem Fußboden. In einem
schattigen Winkel auf der Rückseite des Gebäudes entdeckte
ich ein großes Schild aus verzogenem Sperrholz, das an zwei
verbeulten Mülltonnen lehnte.
Als ich mit dem Fuß dagegen stieß, fiel es um, so dass
die Aufschrift zu lesen war. Die grünen
Schnörkelbuchstaben, die wohl an Sütterlinschrift erinnern
sollten und in Altrosa umrandet waren, hatte die Zeit zwar verblasst,
aber sie waren noch zu entziffern:
ERBSENSUPPE THURINGIA
Die Augen gegen die Sonne abschirmend, überquerte ich den
rissigen Asphalt, bis ich zu einer Absperrung gelangte. Ein
zersplitterter, von der Sonne ausgeblichener Balken blockierte eine
Nebenstraße, die geradewegs in die Hügel führte.
»Bingo!«, rief ich Lissa zu, die im Wagen sitzen
geblieben und von der Situation wenig begeistert war.
Die Straße in die Hügel
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