Jaegerin der Daemmerung
spüren, die sie früher einmal füreinander empfunden hatten.
Razvan hätte am liebsten geweint - um sie, um ihre verlorene Familie. Es überstieg seine Vorstellungskraft, woher sie die Kraft genommen hatte weiterzumachen. Ganz alleine, vollkommen verloren, erfüllt von unsäglichem Schmerz über ihren Verlust. Fünf der Gesichter gehörten nur im übertragenen Sinne zu ihrer Familie. Er konnte ihre tiefe Liebe, die Fürsorge für sie spüren, aber ebenso die Furcht, die sich in ihre Gefühle mischte. Als ihm bewusst wurde, dass es ihr davor graute, in Erfahrung zu bringen, was aus ihnen geworden war, weil sie fürchtete, sie könnten denselben Weg wie ihre leiblichen Brüder eingeschlagen haben, beendete er seine Erkundungen. Sowohl die Liebe als auch ihre Angst vor der Wahrheit waren deutlich spürbar.
Unterhalb der zehn Gesichter waren sechs Wölfe zu erkennen, deren Abbilder so naturgetreu aus dem Fels herausgearbeitet waren, dass er nicht anders konnte, als sie zu berühren, um sich zu vergewissern, dass ihr Fell nicht doch echt war.
In dem Wissen, hier die wichtigsten Figuren in ihrem Leben vor sich zu sehen, nahm sich Razvan Zeit, die Gesichter - die der Männer und die der Wölfe - aufs Genaueste zu studieren. Insgeheim fragte er sich, ob sie ihn - wenn sich die Dinge anders entwickelt hätten - ebenfalls im Kreise ihrer Familie auf der Wand verewigt hätte.
Auch hier entdeckte er wieder eine Reihe karpatianischer Sprüche, deren Buchstaben mit Weinreben, Blättern und detailgetreuen Blüten verziert waren.
Sív pide köd - Die Liebe überwindet das Böse. Pitäam mustaakad sielpesäambam - Ich werde dich stets in meiner Seele mit mir tragen.
Erneut legte er seine Hände auf die Buchstaben. Er fühlte die Emotionen, die von der Wand abstrahlten, so stark, dass sie in seinen Augen brannten. Ihre Liebe zu ihren Brüdern, ihrer Familie und ihrem Rudel war unermesslich und durch nichts zu erschüttern. Selbst mit dem Wissen, dass ihre Brüder für sie tot waren, dass sie sie aufs Schrecklichste betrogen hatten, wollte sie sich nur an die Familie erinnern, die sie geliebt und bewundert hatte.
Diese Worte sprachen von Mut, begriff er. Nein, es war mehr als das - Mut, Stärke und Entschiedenheit. Wenn es einen Weg gab, die verlorenen Seelen ihrer Brüder mittels reiner Liebe und Vergebung zurückzugewinnen, würde sie ihn zweifelsohne finden. Vorsichtig zeichnete er die winzigen Kreuze nach, die unterhalb der Gesichter ihrer Brüder und der Brüder De La Cruz in den Stein eingemeißelt waren. Fast kam es ihm vor, als hätte sie auch hier einen Schutzzauber eingewoben, um die liebevollen Erinnerungen zu bewahren, für den Fall, dass sie dem Bösen begegnen sollte, zu dem ihre Familie geworden war.
Erst jetzt entdeckte Razvan den Durchgang zu seiner Rechten, der in einen Anbau des Wohnzimmers führte - einem Raum mit einem breiten Wasserbecken, das von einem kleinen Wasserfall gespeist wurde. Auch in diesem dritten Raum gab es Reliefs, doch im Gegensatz zu den anderen Räumen waren sie noch nicht vollendet. Razvan konnte einen gewaltigen Baumstamm ausmachen, dessen ausladende Äste sich irgendwann über das Wasser erstrecken würden, so als wollten sie Schatten spenden. Je länger er auf das unvollendete Kunstwerk blickte, desto größer wurde der Wunsch, ihr irgendwann bei der Arbeit zusehen zu dürfen.
Mit eingezogenem Kopf betrat Razvan einen zweiten Gang, wobei seine Schultern unabsichtlich gegen den gewölbten Fels schrammten. Oben im Bogengewölbe, das in einen weiteren Raum führte, hatte sie ein Kreuz in den Stein gemeißelt. Bereits vor dem Betreten des Raums spürte Razvan eine deutliche Veränderung der Energieströme. Während die übrigen Zimmer durch Weiblichkeit und Gemütlichkeit bestachen und viel Liebe ausstrahlten, handelte es sich hier um eine Art Werkstatt oder Waffenkammer. Eins war jedoch gleich: Die Sorgfältigkeit, die Akribie und das Streben nach Perfektion, die seine Retterin den Reliefs hatte angedeihen lassen, spiegelten sich auch in den Waffen wider, die sie herstellte.
Allem Anschein nach schmiedete sie ihre eigenen Schwerter und Dolche. Selbst die Kugeln für die Pistole waren selbstgemacht. Auch hier schien sie eine wahre Meisterin ihres Faches zu sein. Die Vielfalt der Waffen versetzte Razvan in Erstaunen. Einige davon kannte er, bei anderen konnte er nur mutmaßen, wie sie funktionierten oder wozu sie dienten. Die Bücher, die zwischen den diversen Werkzeugen verstreut
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