Jaegerin der Daemmerung

darauf. Tief in Razvans Innerem steckte ungeahnte, zügellose Kraft. Eine Stärke, die sie jedes Mal aufs Neue spürte, wenn sie ihm nahe war. Zugleich strahlte er eine Freundlichkeit aus, die sie niemals bei einem Mann erwartet hätte, dem so viel Böses widerfahren war.
    Bislang hatte sie immer geglaubt, dass sie sich nur zu einem wilden Krieger körperlich hingezogen fühlen könnte. Jetzt wusste sie, dass innere Stärke sie mehr beeindruckte als kämpferisches Geschick. Seine Stärke und Liebenswürdigkeit reizten sie ungemein. Sie sah ihm lange in die Augen, die unentwegt ihre Farbe änderten und so sanft und tief erschienen, dass sie Gefahr lief, sich darin zu verlieren, wenn sie sich nicht in Acht nahm.
    Draußen erwartete sie eine sternenklare und klirrend kalte Nacht. Der glitzernde Schnee tauchte alles in ein helles Licht. Die Eiskristalle, die von den Bäumen hingen, blendeten sie, als sie den Blick über den Wald schweifen ließ.
    Wenn du aus dem Spalt kommst, achte möglichst darauf, nicht mit dem Schnee in Berührung zu kommen. Die kleinste Bewegung reicht schon aus, um die Eiskristalle durcheinanderzubringen, was einen Feind veranlassen könnte, näher hinzuschauen.
    Ivory berührte seinen Geist, um in Erfahrung zu bringen, ob ihre Anweisungen ihn womöglich verärgerten. Doch genau das Gegenteil schien der Fall zu sein. Begierig sog Razvan ihre Worte auf und setzte sie sofort um. Statt sich mit ihr um die Führung zu streiten, folgte er ihr landeinwärts in Richtung Tal, weg vom Gebiet der Karpatianer, hin zu einem kleinen Dorf, das am Fuß der Eisberge lag.
    Du bist in seinem Gebiet. Auch ohne den Namen des dunklen Magiers auszusprechen, war klar, wen Razvan meinte. Da schwang kein Misstrauen in seiner Stimme mit, nur eine leise Frage.
    Er ist stolz darauf, wie weit sein Einfluss reicht. Da er annehmen wird, dass du aus Angst vor ihm so weit wie möglich vor ihm wegläufst, wird er seine Handlanger in die Ferne schicken, um nach dir zu suchen. Folglich dürften wir für den Moment hier sicherer sein.
    Wenn du es sagst, wird es stimmen.
    Ich war zwar nur kurz bei ihm in der Ausbildung, ließ Ivory ihn wissen, aber ich habe die Arbeit geliebt und war eine gute Schülerin. Unglücklicherweise habe ich ihn so wie alles andere gründlich unter die Lupe genommen und festgestellt, dass er nicht das war, was er vorgab zu sein. Leider war ich damals reichlich jung und naiv und wusste nicht, wie ich meine Gedanken und meinen Verdacht vor ihm geheimhalten konnte.
    Erst als Razvans Wärme ihren Geist durchströmte, erkannte sie, dass die Kälte der Nacht - oder vielleicht auch die Erinnerungen an die Vergangenheit - sie erschauern ließ.
    Du hast im Laufe der Jahre gute Fortschritte gemacht. Ich habe ihm täglich bei der Arbeit zugesehen, habe mit angesehen, wie der Wahnsinn, der in ihm wütet, mehr und mehr Besitz von ihm ergriffen hat, bis sein Gehirn nicht mehr richtig funktionierte. Xavier leidet an fortgeschrittenem Größenwahn. Er ist felsenfest davon überzeugt, in allem besser zu sein als jedes andere Wesen auf Erden. Besonders die Unsterblichkeit der Karpatianer ist ihm ein Dorn im Auge. Deshalb sucht er unentwegt nach Möglichkeiten, um diese Spezies auszurotten.
    Ohne an Höhe zu verlieren, drosselte Ivory das Tempo. Sie folgten gerade dem Lauf eines Flusses im Tal unter ihnen, der sich durch breite Weiden und unzählige Baumgruppen schlängelte. Dabei beobachtete sie jede Bewegung unter sich, egal ob Tiere, Rauch, der aus den Kaminen aufstieg, oder Menschen - sie nahm alles auf und teilte es mit Razvan.
    Jede Bewegung hat ein eigenes Muster, erklärte sie ihm. Besonders wichtig ist es, die Tiere im Auge zu behalten, mögen sie noch so klein sein. Mäuse zum Beispiel verkriechen sich bei aufziehender Gefahr im Unterholz. Sie können Schatten in der Luft erkennen. Genau wie Raubtiere. Ihr Instinkt ist Gold wert. Das Gute ist, dass wir nicht einmal mit ihnen verbunden sein müssen, um sie als Warnsystem zu benutzen.
    Razvan hörte auf damit, bloß die Schönheit seiner Umgebung zu genießen, und konzentrierte sich auf das, worauf Ivory ihn aufmerksam machte. Ivory war die perfekte Kriegerin. Wenn sie ihr Versteck verließ, hatte sie nur noch ein Ziel vor Augen: zu überleben. Er musste von ihr lernen, und sie war willens, ihn zu unterweisen. Er betrachtete das Tal unter sich auf einmal mit neuen Augen.
    Die Natur ist deine Freundin, deine Verbündete. Jeder Baum erzählt eine Geschichte. Richte deinen