Jägerin des Herzens
entschuldigend. »Halt mich einfach nur fest.« Seufzend gab Alex nach, und sie legte den Kopf auf seine Schulter, verzweifelt den Schlaf herbeisehnend.
Das Bild ihrer Tochter tanzte in der Dunkelheit vor ihren Augen. Lily schrie ihren Namen und griff nach ihr, aber sie war immer wieder außerhalb ihrer Reichweite. Unheimliches Gelächter erschallte um sie, und sie zuckte zusammen, als eine unheimliche, spöttische Stimme flüsterte: »Du wirst sie nie zurückbekommen … niemals …
niemals …«
»Nicole«, rief sie voller Verzweiflung. Mit ausgestreckten Armen lief sie schneller, stolperte und kämpfte gegen Ranken, die sich ihr um die Beine wanden, sie zu Boden zogen, ihre Schritte behinderten. Vor Wut schluchzend schrie sie nach ihrer Tochter, und dann hörte sie das verängstigte Weinen eines Kindes. »Mama …«
»Lily.« Eine ruhige Stimme drang durch den Nebel und die Dunkelheit. Sie schwankte und ruderte mit den Armen.
Plötzlich war Alex da und hielt sie fest. Sie entspannte sich und lehnte sich an ihn. Sie atmete keuchend. Es war ein Alptraum gewesen. Sie drückte ihr Ohr an seine starke Brust und lauschte auf das gleichmäßige Pochen seines Herzens. Schließlich war sie völlig wach und merkte, dass sie sich nicht im Bett befanden. Sie standen am schmiedeeisernen Geländer im Treppenhaus. Sie schrie leise auf. Sie war wieder schlafgewandelt.
Alex legte die Hand unter ihr Kinn. Sein Gesicht war verschlossen, und seine Stimme klang beinahe gleichgültig.
»Ich bin aufgewacht und du warst nicht da«, sagte er gepresst. »Ich habe dich hier oben an der Treppe gefunden.
Du wärest beinahe hinuntergestürzt. Was hast du geträumt?«
Es war unfair von ihm, ihr Fragen zu stellen, da er genau wusste, dass sie noch nicht ganz bei sich war. Lily versuchte, den Nebel, der sie immer noch umgab, zu durchdringen. »Ich habe versucht etwas zu erreichen.«
»Was?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte sie unglücklich.
»Ich kann dir nicht helfen, wenn du mir nicht vertraust«, sagte er mit eindringlicher Stimme. »Ich kann dich nicht vor den Schatten beschützen oder dich aus deinen Träumen retten.«
»Ich habe dir alles gesagt … Ich … ich weiß nicht.«
Beide schwiegen. »Habe ich jemals erwähnt«, sagte er schließlich kalt »wie sehr ich es hasse, angelogen zu werden?«
Sie mied seinen Blick und sah zu Boden. »Es tut mir Leid.« Sie wollte, dass er sie in die Arme nahm und an sich zog, wie er es immer machte, wenn sie schlecht geträumt hatte. Sie wollte, dass er sie liebte, damit sie für kurze Zeit alles vergessen und nur seine Wärme in sich spüren konnte. »Alex, geh wieder mit mir zu Bett.«
Mit distanzierter Freundlichkeit schob er sie in Richtung des Schlafzimmers. »Geh nur. Ich bleibe noch eine Weile auf.«
Seine Weigerung überraschte sie. »Und was machst du?«, fragte sie mit dünner Stimme.
»Lesen. Trinken. Ich weiß noch nicht.« Er ging die Treppe hinunter, ohne sich noch einmal nach ihr umzusehen.
Lily ging ins Schlafzimmer und kroch zwischen die zerwühlten Laken. Sie vergrub ihr Gesicht im Kissen. »Du hasst es vielleicht, an angelogen zu werden, Mylord«, murmelte sie, »aber nict halb so sehr, wie ich es hasse, alleine ins Bett zu gehen.«
Die Kühle zwischen ihnen hielt auch am nächsten Tag an. Lily machte ihren morgendlichen Ausritt im Hyde Park ohne in, nur in Begleitung eines Stallknechts. Später nahm sie sich ihre Korrespondenz vor, eine Beschäftigung, die sie verabscheute. Es gab stapelweise Visitenkarten mit Terminvorschlägen, an denen sie Besuche machen konnte, und handschriftliche Anfragen, wann sie denn nun Besuche empfangen würde. Ein weiterer Stapel bestand aus Einladungen zu Bällen, Dinners und Musikabenden. Die Clevelands hatten sie gebeten, im Herbst mit ihnen in Shropshire an der Moorhuhnjagd teilzunehmen, die Pakingtons hatten sie in ihr Jagdhaus im Moor eingeladen, und außerdem sollten sie Freunde in Bath besuchen. Lily hatte keine Ahnung, wie sie all diese Anfragen beantworten sollte. Wie konnte sie Einladungen für eine Zukunft annehmen, in der sie nicht mehr da sein würde? Es war verführerisch, sich einzureden, dass sie immer mit Alex zusammenbleiben würde, aber dann fiel ihr immer wieder ein, dass eines Tages alles zu Ende sein würde.
Lily legte die Einladungen beiseite und ging ein paar Papiere auf Alex’ Schreibtisch durch. Er hatte heute früh ein paar Notizen gemacht bevor er mittags zu einem Treffen über die Parlamentsreform
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