Jägerin des Herzens
aufgebrochen war. Sie lächelte, als ihr Blick über seine entschlossene Handschrift glitt – starke, kühne Buchstaben mit einer leichten Vorwärtsneigung. Sie las einen Brief, der an einen seiner Verwalter gerichtet war, und in dem er ihn aufforderte, den Pächtern eine mehrjährige Pacht zu gewähren, damit die Kosten für sie nicht so hoch würden. Alex hatte den Verwalter auch angewiesen, auf seine Kosten neue Gräben und Zäune auf seinem Land ziehen zu lassen.
Nachdenklich legte Lily den Brief weg und glättete die Ecke mit den Fingerspitzen. Nach dem, was sie von der selbstsüchtigen Gier der meisten reichen Landbesitzer wusste, war Alex’ Sinn für Ehrbarkeit und Gerechtigkeit selten. Ein weiterer Brief fiel ihr ins Auge, und sie überflog ihn rasch.
… was Euren neuen Bewohner angeht, so werde ich die monatlichen Ausgaben für Pokeys Unterhalt bis zum Tod des Tieres tragen. Wenn er ein bestimmtes Futter braucht, so teilt es mir bitte mit, und ich werde dafür Sorge tragen, dass es ständig zur Verfügung steht. Ich bin zwar sicher, dass Ihr ihn exzellent versorgen werdet, möchte aber trotzdem von Zeit zu Zeit zu Besuch kommen und mich selbst vom Gesundheitszustand des Bären überzeugen …
Lily lächelte nachdenklich, als sie an die Szene vor ein paar Tagen dachte. Sie waren nach Raiford Park gefahren, um Pokey in sein neues Heim zu bringen. Henry hatte den ganzen Morgen vor dem Käfig im Garten gesessen und so betrübt ausgesehen, wie, die Dienstboten erleichtert gewesen waren.
»Müssen wir ihn weggeben?«, hatte Henry gefragt als Lily zu ihm getreten war. »Pokey macht doch überhaupt keine Mühe …«
»Er wird in seinem neuen Heim viel glücklicher sein«, erwiderte Lily. »Keine Ketten mehr. Lord Kingsley hat das Gehege, das sie für ihn gebaut haben, als kühl und schattig beschrieben. Es fließt sogar ein kleiner Bach hindurch.«
»Das gefällt ihm wahrscheinlich besser als ein Käfig«, gab Henry zu und rieb dem Bären den Kopf. Friedlich seufzend schloss Pokey die Augen.
Plötzlich wurden sie von Alex’ ruhiger Stimme unterbrochen. »Henry. Geh von diesem Käfig weg langsam. Wenn ich dich dort noch einmal erwische, verprügele ich dich so, dass deine Erfahrungen in Westfield im Vergleich dazu nur eine angenehme Erinnerung sind.«
Henry unterdrückte ein Grinsen und gehorchte sofort. Auch Lily konnte sich ein Lächeln kaum verkneifen. Soweit sie beurteilen konnte, hatte Alex bisher seine Drohungen Henry gegenüber noch nie wahrgemacht.
»Er ist überhaupt nicht gefährlich«, murrte Henry. »Er ist ein netter Bär, Alex.«
»Dieser ›nette Bär‹ könnte dir mit einem einzigen Zucken seiner Kiefer den Arm abbeißen.«
»Er ist zahm und viel zu alt, um eine Bedrohung zu sein.«
»Er ist ein Tier«, erwiderte Alex gepresst. »Ein Tier, das von den Menschen misshandelt worden ist. Und es spielt keine Rolle, dass er alt ist. Du wirst schon noch lernen, mein Junge, dass das Alter nur wenig Auswirkung auf das Temperament hat. Denk nur an deine Tante Mildred.«
»Aber Lily hat den Bären auch gestreichelt«, protestierte Henry »Das habe ich heute Morgen gesehen.«
»Petze«, murmelte Lily und warf ihm einen finsteren Blick zu. »Das werde ich nicht vergessen, Henry!« Sie lächelte Alex entschuldigend an, aber es war schon zu spät.
»Du hast dieses verdammte Tier gestreichelt?«, fragte er und trat auf sie zu. »Obwohl ich dir verboten hatte, ihm zu nahe zu kommen?«
»Aber Alex«, erwiderte sie zerknirscht »er hat mir so Leid getan.«
»In einer Minute wirst du dir noch viel mehr Leid tun«
Lily grinste in sein strenges Gesicht und wich rasch nach links aus. Alex aber erwischte sie trotzdem und schwang sie hoch in die Luft. Sie kreischte vor Lachen. Dann stellte er sie wieder hin und drückte sie fest an sich. Seine grauen Augen funkelten vor Vergnügen, als er seine rebellische Frau ansah. »Ich werde dich lehren, was es heißt mir nicht zu gehorchen«, grollte er und küsste sie vor Henrys Augen.
Als sie jetzt daran dachte, verstand Lily endlich das Gefühl, das sie an jenem Tag gestreift hatte, das Gefühl, das stärker geworden war, seit sie ihm zum ersten Mal begegnet war. »Gott möge mir helfen«, flüsterte sie. »Ich liebe dich, Alex Raiford.«
Lily kleidete sich sorgfältig für den Ball an, auf den sie heute Abend gingen, ein Fest anlässlich Lady Lyons fünfundsechzigstem Geburtstag. Sechshundert Gäste wurden erwartet und viele kamen eigens zu diesem Anlass
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