Jägerin des Herzens
können.
»Nein, Liebes, er ist schon immer so gewesen«, hatte Totty begütigend gesagt. »Dein Vater ist eben ruhig und zurückhaltend. Aber er ist nicht grausam, Lily – es gibt Männer, die ihre Kinder schlagen, wenn sie ihnen nicht gehorchen! Du hast Gott sei Dank einen sanften, freundlichen Vater.«
Insgeheim hatte Lily seine Gleichgültigkeit als fast genauso grausam wie Prügel empfunden. Jetzt machte ihr seine Gleichgültigkeit nicht mehr so viel aus. Sie hatte resigniert und war nur noch traurig darüber. Sie versuchte, die richtigen Worte zu finden, um ihm zu sagen, was sie empfand.
»Es tut mir Leid, dass ich nichts tauge«, sagte Lily. »Vielleicht würden wir besser miteinander auskommen, wenn ich ein Sohn geworden wäre. Aber ich war aufsässig und dumm und habe so viele Fehler gemacht … oh, wenn du alles wüsstest du würdest dich sogar noch mehr meiner schämen, als du es bereits tust. Aber dir sollte es auch Leid tun, Papa. Du warst kaum mehr als ein Fremder für mich. Seit meiner Kindheit musste ich mir meinen eigenen Weg suchen. Du warst nie da. Du hast mich nie bestraft oder gescholten oder mir sonst irgendwie gezeigt dass du von mir Notiz genommen hast. Mutter hat zumindest geweint.« Sie fuhr sich mit den Händen durch die Haare und seufzte. »Ich hätte dich so oft gebraucht … Ich hätte mich so gern auf dich verlassen können. Aber du hast dich hinter deinen Büchern und philosophischen Schriften vergraben. Du bist so ein großer Gelehrter, Papa.«
George blickte sie an und wollte ihr widersprechen. Lily lächelte traurig. »Ich wollte dir nur sagen, dass ich dich trotz allem liebe. Ich wünschte … ich wünschte, ich könnte behaupten, dass du das Gleiche empfindest.«
Wartend stand sie da und sah ihn an, die Hände zu Fäusten geballt. Aber er schwieg.
»Verzeih mir«, sagte sie schließlich »Ich glaube, Mutter ist bei Penelope. Sag ihnen, dass ich sie liebe. Leb wohl, Papa.« Abrupt drehte sie sich um und ging.
Beherrscht stieg Lily die majestätische Treppe hinunter. Mit Bedauern stellte sie fest dass sie Raiford Park wahrscheinlich nie mehr wiedersehen würde. Zu ihrer Überraschung hatte sie die stille Pracht des Hauses und seine klassische Ausstattung schätzen gelernt. Wie schade! Wenn Alex nicht so griesgrämig wäre, könnte er einer Frau ein wundervolles Leben bieten. Sie verabschiedete sich vom Butler und zwei Zofen, und dann trat Lily nach draußen, um zuzusehen, wie ihre letzten Habseligkeiten in die Kutsche verladen wurden. Als sie die Augen mit der Hand gegen die Sonne abschirmte, sah sie eine einsame Gestalt die Auffahrt entlang kommen. Es war Henry der von einem morgendlichen Besuch bei seinen Freunden im Ort zurückkam.
»Gott sei Dank«, sagte Lily erleichtert. Sie winkte ihn zu sich, und Henry beschleunigte seinen Schritt. Als er sie erreichte, blickte er sie aus seinen blauen Augen fragend an. Liebevoll strich ihm Lily ein paar goldene Locken aus der Stirn. »Ich hatte schon Angst du würdest nicht rechtzeitig zurückkommen«, sagte sie.
»Was ist los?« Henry blickte auf die Kutsche. »Rechtzeitig für was?«
»Um auf Wiedersehen zu sagen.« Lily lächelte traurig. »Dein Bruder und ich hatten einen Streit Henry. Und jetzt muss ich abreisen.«
»Einen Streit? Weswegen?«
»Ich fahre nach London«, erwiderte Lily und ignorierte seine Frage. »Es tut mir Leid, dass ich dir nicht alle meine Kartentricks beibringen konnte, alter Knabe. Nun, vielleicht kreuzen sich unsere Wege eines T es noch einmal.«
Sie zuckte die Schultern. »Vielleicht sogar bei Crave’ s. Dort verbringe ich nämlich die meiste Zeit weißt du.«
»Craven’ s?«, wiederholte Henry ungläubig. »Das hast du mir gar nicht erzählt.«
»Ich bin recht gut mit dem Inhaber befreundet.« »Mit Derek Craven?«
»Du hast also schon von ihm gehört?« Lily verbarg ein befriedigtes Lächeln. Henry war also schon zum Spielen gegangen, wie sie sich gedacht hatte. Kein junger Bursche konnte dem verbotenen Reiz der Männerwelt auf der St.
James Street widerstehen.
»Wer hat das nicht? Was er für ein Leben geführt hat! Craven kennt die reichsten, mächtigsten Männer in Europa.
Er ist eine Legende! Der bedeutendste Mann in England … neben dem König, natürlich!«
Lily lächelte. »Ganz so würde ich es nicht sagen. Wenn Derek hier wäre, würde er dir wahrscheinlich erklären, dass er nicht mehr als ein Tropfen im Meer ist. Er besitzt allerdings einen recht netten
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